Sprachrohr

DIGITALISIERUNG ALS ZUKUNFTSPORNO

Geschrieben von Felix Pliester | Apr 1, 2022 6:00:00 AM

Ist Zukunftsporno nicht ein tolles Wort? Es fiel mal auf einer Konferenz zum Digitalen Wandel in Frankfurt. Unter dem Begriff kann man wohl zweierlei verstehen: a) Digitalisierung ist voll porno! (Jugendsprache für großartig), b) Dinge, die wir tun, bei denen wir uns nicht sicher sind, ob wir sie später bereuen, oder uns durch den Moment erfreuen. Das trifft auf die Digitalisierung zu. Gestalten wir sie aktiv, bietet sie einen ökonomischen Vorteil. Gleichzeitig durchzieht sie unsere komplette Lebenswelt. Also wäre es ja ganz gut, sich ein paar Gedanken dazu zu machen. Oder wie Mike Tyson gesagt haben soll: Jeder hat eine Strategie, bis er ins Gesicht geschlagen wird." Was also haben die Experten damals auf der Konferenz dazu sagen gehabt? Folgende Themen der Konferenz habe ich mitgeschnitten: 

KI & Mensch

Das Bild des Roboters, der das Mädchen an die Hand nimmt und auf sie aufpasst, wird sicherlich so nie passieren. Konsens ist, dass wir aufhören müssen, KI zu vermenschlichen. Denn was KI nicht beherrscht, und nie beherrschen wird, ist Empathie - und das auf allen Ebenen, ob in der Kindererziehung oder in Krankenpflege. Was KI jedoch sehr gut kann, ist, einfache prozessuale Abläufe weiter zu vereinfachen und erforderliche Entscheidungen in diesem Umfeld zu treffen. 

Vielleicht ist es ganz hilfreich, die Debatte zu drehen: Weg von der Angst vor Digitalisierung ("Die KI nimmt uns die Jobs weg"), hin zu ihren Potenzialen. Wenn wir Arbeitsabläufe effektiver und effizienter gestalten können, dann ist es vernünftig, dies auch zu tun. Gleichzeitig müssen wir uns überlegen, welche alternativen Aufgaben diejenigen Menschen übernehmen können, deren Aufgaben es dann nicht mehr geben wird. Diese Überlegung sollte auf allen in allen Bereichen stattfinden. In der Organisation bedarf es hier sicherlich viel Coaching, um die Stärken und Neigungen der Betroffenen herauszuarbeiten. Für uns als Gesellschaft bedarf es wiederum eines neuen Gesellschaftsvertrags, damit die Rechte der Bürger, z.B. auf Freiheits- und Privatsphäre, nicht verloren gehen und die Gesellschaft nichts an ihrer Stabilität einbüßt (Bsp.: Wohlstandsverteilung). Eindeutig muss die Debatte JETZT passieren, der Digitale Wandel wartet nicht.

Startup-Kultur in der Silberrückengesellschaft

Startup-Kultur ist mehr als Sportschuhe und Post-Its. Es geht um „einfach mal machen“, Verantwortung übernehmen, Ergebnisse ausspucken und schnell sein. Eigenschaften, die so mancher Konzern auch gerne verkörpern würde. Ein Gründer meinte sogar: „Ich sehe in Konzernstrukturen kaum jemanden, der wirklich arbeitet. Aber viele Menschen, die planen und diskutieren." Was wäre also, wenn man einer Person MEHR Verantwortung geben würde, MEHR als Zulassen klassischer Prozessschritte? Da für gewachsene Strukturen diese Frage wahrscheinlich zu radikal ist, lasst uns schauen, wie sich neue, flexible Organisationsstrukturen in etwas Etabliertem integrieren können?  

Ein Vorschlag: Bei einigen Dingen lohnt es sich, mal nicht flexibel zu sein. Was sind denn letztendlich die Konsequenzen, wenn man Aufgaben gekonnt ignoriert, die nach dem Motto gehen: Ich-brauch-das-jetzt-von-Dir-weil-auf-Durchschlag-37-noch-ein-Häkchen-fehlt? 

Leider können wir nicht warten, bis alle Manager mit Öltankermentalität tot über´m Zaun hängen. So viel Zeit haben wir für den Paradigmenwechsel nicht. Wir können ihre Aufgabe aber neu definieren. Schließlich bestand ihre Aufgabe bisher darin, Stabilität in die Organisation zu bringen, was sie ja auch erfolgreich tun. In VUCAhat sich diese Aufgabe jedoch geändert. Lasst uns deshalb genau abwägen, wer „Häuptling“ sein soll. Jemanden so lange zu befördern, bis er inkompetent wird, also “der beste Ingenieur wird irgendwann Chef”, ist sicherlich nicht die Antwort auf die Fragen unserer Zeit. 

Grundeinkommen

Mit der Digitalisierung nimmt das Thema Grundeinkommen wieder Fahrt auf.  Prof. Liebermann fasst zusammen: “Wertschöpfung habe nichts mit Arbeitsplätzen zu tun. Kapital und Digitalisierung könne das auch.” So ist die Debatte um die große Umverteilung nicht neu. Neu ist, dass das Problem dringender wird. Die Wertschöpfung durch Arbeit wird sinken. Wie wird sich dann unser Staat finanzieren? Was passiert mit den Menschen, die nun nicht mehr in Lohn und Brot stehen? Könnten Menschen nicht eine viel größere Wirkung für die Gemeinschaft erzeugen, wenn ihre Grundbedürfnisse des sozialen Lebens gesichert sind? 

Ein schnelles Gegenargument ist immer, dass die Anreize wegfallen. Warum sollte jemand noch einen Finger heben, wenn es alles frei Haus gibt? Plötzlich wird wieder über Faulheit diskutiert, die sanktioniert werden soll. Dazu führt Prof. Liebermann an, dass von den über 900.000 Hartz-IV- Sanktionen nur 3% aller Bezieher betroffen seien. Und 70% davon für Terminverstöße. Wo sind dann also die Faulen? Ich denke, spannenderweise wäre die Debatte hier ja fast eine eigene Debatte wert. 

Apokalypse - Drei Welten sind nicht genug

Spätestens seit dem Bericht vom Club of Rome 1972kann keiner mehr behaupten, er wisse nicht, dass unser Planet Grenzen hat und wir diese überschritten haben! Was kann Digitalisierung hier tun? Eine Chance ist, dass wir mit unseren Ressourcen effizienter umgehen. „Die Effizienz von manchem Unternehmen ist, als ob sie das Licht in Eimern ins Rathaus schleppen möchten", sagte ein Redner. Wir brauchen also Unternehmen, die es nicht weniger schlecht machen, sondern regenerativ sind. Daran sollten wir arbeiten. Der CEO von Telefónica soll gesagt haben: Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, erhalten Sie am Ende einen digitalen Scheißprozess." Also lasst es uns besser machen.  

SmartMobility - SmartCity

Wie sieht die Mobilität von morgen aus? „Weniger MIV (Motorisierter Individualverkehr), mehr ÖPNV, stärkere Nahmobilität, Sharing fördern, etc." So, oder so ähnlich lauten die reflexartigen Antworten. Der anwesende Manager von VW sagte, dass Verkehr durch ineffiziente Nutzung von Fahrzeugen entstehe. Würden wir Fahrzeuge intensiver ausnutzen, z.B. durch autonom fahrende Individualfahrzeuge (und am besten ohne lokale Emissionen), wären wir schon einmal besser als heute. Stimmt, sicher lohnt sich eine differenziertere Betrachtungsweise. Digitalisierung könnte uns in der Tat helfen, vorhandene Mobilitätsressourcen effizienter zu nutzen, durch effektiveres Sharing, durch bessere Mobilitätsplanung, etc. Frau Prof. Bremer, eine der führenden Verkehrsplanerinnen Deutschlands bemängelt die schlechte Datenqualität für die Verkehrsplanung, um in unseren Städten die Lösung für die Verkehrswende aus dem Hut zu zaubern. Fakt ist jedoch, dass wir Verkehrsmittel nicht ersetzen werden (Mache aus Diesel Elektro), sondern sie wie eine Sahnetorte aufeinandersetzen. Das Angebot an Mobilität wird steigen. Und hier sollten wir lernen, mit dem verfügbaren, begrenzten Raum, klüger umzugehen. Frau Prof. Bremer sagt dazu: „Wir könnten den Großraum Köln-Bonn staufrei bekommen, dass ist im Modell bewiesen." 

Digital Excellence Ethics

Der Zug der Digitalisierung rauscht schon mit Tempo 300 vorwärts. Die Ethik hat in ihm drei Sitzplatzangebote: Erstens die Ethik der Technologiefolgenabschätzung, die zwar Wichtiges beizutragen hätte, aber, bedauerlicherweise ist der Zug an ihr schon vorbeigefahren. Zweitens gäbe es Sitzplätze in der überfüllten Zweiten Klasse, z.B. in Form der Prozessethik. Hier gibt es eine Menge zu tun. Allerdings wird nach jeder Station herausgefordert, ihren Sitzplatz zu verteidigen.  

Die dritte Art von Sitzplatz befindet sich direkt auf dem Triebwerk. Hier können Sie etwas erschaffen und bewegen. Wie könnte diese "Ethik des Gestaltens" aussehen? Dr. Schnebel schlägt vor, die zentralen Design Thinking-Bausteine Ideation und Prototype mit Ethik anzureichern, so dass die Ethik zwischen dem Verstehen und der Lösung steht. In der Praxis funktioniert das ganz gut, auch um neue Ansätze zu innovieren. Zwei Dinge werden dafür benötigt: eine gemeinsame ethische Basis und Parameter, mit denen man den Innovationsprozess ethisch durchführen möchte. Für die Digitalisierung schlägt Dr. Schnebel folgende fünf Bereiche vor, in denen Ethik eine Rolle spielt: 

1. Geschwindigkeit => Ethik muss bei der Geschwindigkeit der Digitalisierung mithalten können 
2. Kommunikation => Digitalisierung erfordert neue Codes der Verständigung 
3. Transparenz => Wir wollen Inhalte verstehen, wissen aber nichts über den Informationsbedarf des Empfängers oder –gehalt unserer eigenen Botschaften. 
4. Navigation => Digitalisierung erschafft neue Ziele, die es zu kalibrieren gilt 
5. Komplexität und Serendipität => Digitalisierung steigert die Vernetzung aller. Einerseits fördert das die Komplexität, andrerseits auch den glücklichen Zufall.

Was ist denn nun so pornös an der Digitalisierung? 

Ja, diese Frage wurde mir auf der Konferenz damals nicht beantwortet, also muss mich selbst an der Antwort probieren. Digital ist sexy, weil es das neue unbekannte ist und unfassbar viele Bedürfnisse befriedigt. Den Höhepunkt haben wir in dem Thema aber noch nicht erreicht. Dennoch sind allein an diesem Tag ein paar ganz reizende Themen gefallen, bei denen es lohnt, tiefer zu graben: Allein der aufregende Gedanke, Städte FÜR uns Menschen zu planen, Ethik in unsere Entscheidungen systematisch mit einzubauen, frische Ideen in Bewahrerkultur zu integrieren, dem Planeten zuliebe zu entmaterialisieren, etc. Viele Fragen, wenig Ekstase! Denn wir machen uns daran, aus der Monotonie des Bewahrens und Stabilisierens endlich wieder ins Entdecken und Gestalten zu gehen. Das ist Abenteuer, das ist Porno!