Nach wie vor befinden wir uns mitten in der Fastenzeit. Sie fragen sich jetzt aber bestimmt: Was hat Lean Management mit Fasten zu tun? Eine ganze Menge. Denn in beiden Fällen geht es darum, sich bewusst auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Kunst im Lean Management ist es einen funktionierenden Weg zu finden, um Verschwendung zu vermeiden ohne währenddessen abzumagern. Immer noch zu kryptisch? Lassen Sie mich etwas konkreter werden.
Der zentrale, wesentliche Ansatz des Lean Managements ist die Reduktion und Vermeidung von Verschwendung. Dieser Ansatz geht ursprünglich auf den Automobilhersteller Toyota zurück. Dieser schaffte es in der Mitte des 20. Jahrhunderts, durch diese revolutionäre Umstellung der eigenen Produktion, weg von der bisherigen klassischen Massenproduktion, eine stabile Prozessorganisation zu gestalten und aufzubauen. Der Erfinder dieses Produktionssystems, Taiichi Ōno, definierte dabei die folgenden sieben verschiedene Quellen der Verschwendung (jap. Muda) innerhalb der Produktion:
1. Materialbewegungen (Transportation)
2. Bestände (Inventory)
3. Bewegungen (Motion)
4. Wartezeiten (Waiting)
5. Nachbearbeitung (Over-Processing)
6. Überproduktion (Over-Production)
7. Korrekturen und Fehler (Defects)
Bei weitem bezieht sich der Ansatz des Lean Managements heutzutage nicht mehr nur auf die Automobilindustrie. Viele verschiedene Branchen, auch außerhalb der produzierenden Industrie verfolgen den Ansatz. Das Konzept der Verschwendung selbst lässt sich dabei allgemein gültig definieren als jegliche Form menschlicher Aktivität, die Ressourcen verbraucht, aber keinen Kundennutzen erzeugt und auch nicht direkt oder indirekt dem Unternehmen dient.
Neben dem zentralen Ziel der Reduktion von Verschwendung, verfolgt das Lean Management darüber hinaus noch zwei weitere Ziele, die hier, aus Gründen der Vollständigkeit, kurz genannt werden sollen: Einerseits das Ziel, einen höheren Standardisierungsgrad zu erlangen und die Prozessvielfalt zu reduzieren (jap. Mura). Andererseits das Ziel Belastungen der Mitarbeiter und Unfälle zu vermeiden (jap. Muri).
Unternehmen verfolgen bei allem was sie tun stets das Ziel, sich von ihren Wettbewerbern abzuheben. Gleiches gilt auch für die Entscheidung, Lean Management zu implementieren, denn durch die gezielte Reduktion von Verschwendung in allen Unternehmensbereichen ist es nicht nur Toyota möglich gewesen, relevante Wettbewerbsvorteile zu realisieren und zu manifestieren.
Konkret versprechen sich Unternehmen, durch die Einführung von Lean Management und die damit einhergehenden schlanken Unternehmensstrukturen, zeitliche Wettbewerbsvorteile, beispielsweise infolge der Reduktion der bestehenden Produktionsschritte, der Verkürzung der Durchlaufzeiten und damit einer Verkürzung der Produktionszyklen, Vorteile in Hinblick auf die Produktionsqualität oder auch in Bezug auf das Produktdesign, aber auch Performance-Vorteile durch eine höhere Arbeitsproduktivität der Mitarbeiter oder geringere Gesamtkosten realisieren zu können.
Können schlanke Strukturen im Sinne des Lean Managements auch zu schlank sein?
Die einfache Antwort ist: Ja, Unternehmensstrukturen können zu schlank sein. Eine etwas differenziertere Antwort würde wahrscheinlich lauten: Lean Management bewegt sich immer an der Grenze zwischen maximaler Reduktion, ohne sich selbst die Luft zum Atmen zu nehmen, also, ohne sich selbst so sehr einzuschränken, um als Unternehmen weiterhin funktionieren zu können. Sicherlich eine gewagte Herausforderung, insbesondere in Anbetracht dessen, dass nicht jeder Ressourcen-Einsatz direkt mit einem Wert für den Kunden in Verbindung gebracht werden kann. Man denke hier vor allem an Innovationen. Sicherlich sollte das Ziel einer neuen, innovativen Entwicklung immer sein, Nutzen und Wert für den Kunden zu stiften. Innovation braucht aber auch Zeit und Ressourcen, um entwickelt werden zu können, ohne, dass zu Beginn eines Entwicklungsprojekts eine eindeutige Aussage darüber getroffen werden kann, welchen konkreten Wert die eingesetzten Mittel für den Kunden haben werden. Dass dieser Ressourcen-Einsatz, der im Moment noch keinen Wert für den Kunden stiftet, als „Verschwendung“ bewertet und eliminiert wird, ist aber sicherlich der falsche Weg. Denn schließlich sind Innovationen das einzige Mittel für ein Unternehmen, um sich immer wieder im Markt zu beweisen, an neue Gegebenheiten anzupassen und nicht aufgrund des eigenen Stillstands aus dem Markt verdrängt zu werden.
Als zweites denke man an Resilienz. Resilienz meint im ökonomischen Sinn die Fähigkeit eines Unternehmens sich in Krisensituationen anpassen zu können und aus diesen zu lernen. In den vergangenen zwei Jahren hat uns die Pandemie und der damit einhergehende Zusammenbruch vieler Lieferketten gezeigt, wie schnell Unternehmen an ihre Grenzen stoßen, wenn keine Rohstoffe, Produktkomponenten oder Einzelteile nachgeliefert werden können. Hat man seine Beschaffungsstrategie zu stark auf Effizienz getrimmt, steht plötzlich das ganze Band still. Lieferanten, die vielleicht teurer, dafür vor der Haustür sind, können so plötzlich an Attraktivität gewinnen. Im Prinzip liegt auch diesem Aushandlungsprozess zwischen Verschlankung und Ausfallsicherheit eine zentrale Frage aus dem Lean Management zugrunde: Wie viel Puffer braucht es?
Daran knüpft sich die Frage an: Wenn es ein „zu schlank“ gibt, was ist dann das richtige Maß für „lean“? Die Implementierung von Lean Management erfolgt nach Womack, Jones und Roos grundsätzlich nach den folgenden fünf Schritten (1):
1. Die Definition des Werts aus Kundensicht. Hier geht es um eine klare Definition und ein einheitliches Verständnis davon, welcher Wert, d.h., welche Leistung für den Kunden produziert wird.
2. Die Identifikation des Wertstroms jedes Produkts beziehungsweise jeder Leistung. Hier wird der Prozess und damit alle Aktivitäten betrachtet und beschrieben, die zur Erzeugung dieses Kundenwerts führen. Dabei können wesentliche Optimierungspotenziale hinsichtlich des Ziels, Verschwendung in den Unternehmensabläufen zu reduzieren oder zu vermeiden, identifiziert werden.
3. Die Umsetzung des Fluss-Prinzips. Dies bedeutet, einen kontinuierlichen, möglichst standardisierten Ablauf der Prozesse zu schaffen, Engpässe zu beseitigen und die Effizienz des Ablaufs zu steigern.
4. Die Einführung des Pull-Prinzips. Das heißt, die Produktion richtet sich nach dem zu erwartenden Bedarf des Kunden, sodass im besten Fall eine Just-in-Time-Lieferung und dadurch geringe Lagerbestände von Teil- oder Endprodukten möglich ist.
5. Das Streben nach Perfektion, um so kontinuierlich und unter Berücksichtigung sich verändernder Rahmenbedingungen Optimierungspotenziale hinsichtlich der Reduktion von Verschwendung maximal zu realisieren. Dies geht aber notwendigerweise auch damit einher, dass die bestehenden Prozesse und Unternehmensabläufe laufend überprüft und hinterfragt werden.
Was nehmen wir von den fünf Prinzipien also mit? Sie stellen grundsätzlich einen idealtypischen Verlauf bei der Implementierung von Lean Management dar. In der Praxis ist der Erfolg bei der Einführung von Lean Management aber stets unternehmensspezifisch und von verschiedenen Faktoren abhängig – allen voran, der individuellen Unternehmenskultur. Beispielsweise zeigen empirische Untersuchungen, dass die Implementierung von Lean Management in Prozess und Mitarbeiter orientierten, regelgebundenen, strukturell offenen und marktorientierten Organisationen eher erfolgreich verläuft (2).
Ganz wichtig, um einen verantwortungsvollen Optimierungsprozess im eigenen Unternehmen in Gang zu setzen, ist es daher, seine eigenen Prozesse zu kennen. Dabei gilt es sowohl „in den Hubschrauber einzusteigen“ und von oben die Kernprozesse zu identifizieren. Genauso ist es aber auch notwendig am Boden genau hinzuhören, wie die Prozesse funktionieren – und vielleicht auch eben nicht funktionieren. Niemand wird das besser wissen als die Menschen, die täglich den Prozess mit Leben füllen – wenn man sie richtig fragt. Hat man den Goldstaub in seinen Prozessen gefunden, schließt sich direkt die Frage an, wie optimieren? In dem Whitepaper „Wenn Sie den Effizienz–Goldstaub in den Prozessen finden“ gibt mein Kollege Christoph Dill konkrete Handlungsvorschläge.
Zum kostenfreien Download gelangen Sie hier:
Weiterführende Literatur:
(1) WOMACK, JAMES, JONES, DANIEL, ROOS, DANIEL, The Machine that changed the World: The Story of Lean Production. New York, 1990.
(2) CADDEN, TREVOR, MILLAR, KEITH, TREACY, RAYMOND, HUMPHREYS, PAUL, The mediating influence of organizational cultural practices in successful lean management implementation, International Journal of Production Economics, 229 (2020), S. 10.