Sprachrohr

Orientierung im Unklaren

Geschrieben von Paula Bemmann-Wöschler | Dec 7, 2025 11:30:00 PM

Orientierung im Unklaren – Change by Design & strategische Transformation 

Noch nie mussten wir uns so stark und in so kurzer Zeit verändern – und noch nie war der Widerstand so groß. Dieser Satz beschreibt sehr präzise das Spannungsfeld, in dem sich viele Organisationen heute bewegen. Wir erleben technologische Sprünge durch KI, neue Marktlogiken durch Klimawandel, Lieferketten, die reißen oder durch geopolitische Instabilität, aber auch gesellschaftliche Brüche z.B. durch Infragestellung der Generationengerechtigkeit, Verhärtung der politischen Lager oder der Angst vor Überfremdung. Alles verändert sich in atemberaubendem Tempo – und gleichzeitig scheint etwas uns festzuhalten und uns mit angezogener Handbremse agieren zu lassen. 

Dieses Spannungsfeld nennen wir das „Paradox des Wandels“. Führungskräfte spüren das täglich. Strategien sind klar, Strukturen stehen – und trotzdem wird irgendwo im System eine unsichtbare Handbremse gezogen. Das hat nichts mit Unwillen zu tun, sondern mit Psychologie. Es ist an der Zeit, Wandel nicht als rein technische Aufgabe, sondern vor allem als emotionale Erfahrung zu verstehen. Denn Zukunftsfähigkeit entsteht dort, wo Menschen Orientierung finden – auch dann, wenn Führungskräfte sie selbst noch suchen. 

Zentrale Frage 

Aber, wie geben wir Orientierung, wenn wir selbst (noch) im Unklaren stehen? 

Diskussion 

Wenn etwas Altes endet, verlieren Menschen Halt. Denn Veränderung bedeutet immer auch Verlust. Wir verabschieden uns von haltgebenden Gewohnheiten, Sicherheiten, Routinen. Und genau wie Menschen trauern, trauern auch Organisationen – um Kontrolle, Stabilität, Zugehörigkeit. Der Widerstand ist dabei weder Blockade, noch Unvermögen oder Bosheit, sondern eine ganz menschliche, emotionale Schutzreaktion auf Angst. Widerstand zeigt uns sehr genau, wo Menschen Orientierung und Halt suchen. Wenn wir darauf nicht reagieren und dadurch Kommunikation fehlt, füllt sich der Raum mit Spekulation – und Spekulationen, die durch Angst genährt werden, sind selten positiv.  

Deshalb braucht Transformation nicht zuerst neue Methoden oder Tools, sondern Räume, in denen Emotionen Platz haben. Orte, an denen Unsicherheit ausgesprochen werden darf, an denen Angst nicht bewertet, sondern aktzeptiert und verstanden wird. Denn ohne emotionale Verarbeitung bleibt Veränderung nur ein theoretisches Konzept auf schicken Whiteboards oder in überzeugend anmutenden Marketingsprüchen, aber keine echte Erfahrung. Kommunikation, Resonanz und Beteiligung sind deshalb die Schlüsselfaktoren einer lebbaren Transformation. 

Die Trauerkurve von Elisabeth Kübler-Ross beschreibt, wie Menschen mit Verlust und für sie schmerzlichen Veränderungen umgehen. Mit ihrer Hilfe haben Führungskräfte, die zwischen Tempo, Druck und Menschlichkeit, zwischen Marktanforderungen und Teamdynamik, zwischen Strategie und Beziehung das „Paradox des Wandels“ in ihren Organisationen besonders deutlich spüren, einen guten „Anpack“, um mit und in ihren Teams über alle Begleiterscheinungen in Transformationsprozessen zu sprechen.  

(Quelle Canva: lumanaa Design)

 Kübler-Ross zeigte auf, dass Menschen in Veränderungen den Verlust zunächst nicht wahrhaben wollen. Sie sind oft geschockt oder fühlen sich wie betäubt und versuchen, die Realität zu leugnen, um sich vor den emotionalen Folgen zu schützen. Daraus kann im 2. Schritt Wut oder Zorn entstehen. Nicht selten geben Betroffene dann anderen oder dem Schicksal die Schuld. Wichtig ist hier, sich und anderen immer wieder klarzumachen, dass diese Aggression nicht persönlich gegen andere gerichtet, sondern ein Teil des Verarbeitungsprozesses ist. Sobald Menschen bestrebt sind, die Kontrolle über eine Situation zurückzugewinnen, beginnen sie mit ihrer Umwelt zu verhandeln. Nicht selten werden dann unrealistische Versprechungen gemacht oder versucht, so viel wie möglich „vom Alten“ zu retten. Je bewusster und unumgänglicher dann die Realität des Verlustes wird, treten Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Trauer in den Vordergrund. Menschen fühlen sich energielos und ziehen sich zurück. Die Stimmung im Team erreicht ihren Tiefpunkt. Im Change-Management wird auch vom „Tal der Tränen“ gesprochen, das durchschritten werden muss. Erst dann beginnen Betroffene, sich mit dem Geschehen langsam zu arrangieren und den emotionalen Verlust in ihr Leben zu integrieren. Akzeptanz entsteht – was nicht bedeutet, dass auch die Trauer über den Verlust bereits verschwunden ist. 

Diese Trauerkurve ist immer ein individueller Prozess. Jeder Mensch und damit jede Organisation trauert im eigenen Tempo und auch nicht immer linear. Die Trauerphasen sind nämlich keine starre Abfolge. Manchmal werden Phasen übersprungen oder wiederholt oder finden sogar alle gleichzeitig statt. Sobald sich Führungskräfte dies bewusst machen, wird ihnen klar, dass fertige Antworten nicht helfen können. Das, was in solch einem Prozess hilft, sind: Wert zu schätzen, was gerade ist, Anlässe zum Austausch und zum Aussprechen zu schaffen und die eigene innere Orientierung als Kompass zu nutzen. 

Die Transformationsforscherin Maja Göpel schreibt: „Werte sind das Orientierungssystem im Unklaren.“ Werte sind mehr als Leitbilder oder hübsche Poster an der Wand. Sie sind emotionale Anker, die uns erinnern, wofür wir handeln – nicht nur wie. Wenn wir uns von ihnen leiten lassen und sie bewusst leben, geben sie uns Richtung, wo Strukturen sich auflösen. Sie schenken Vertrauen, wo Unsicherheit wächst. Denn sie schaffen Bedeutung und beantworten die entscheidende Führungsfrage: „Wofür handeln wir?“ Durch diesen Sinn entstehen Orientierung und Mut. Entgegen landläufiger Meinung ist Mut kein individueller Zufall, sondern ein kollektiver Muskel, den Teams durch gelebtes Vertrauen, psychologische Sicherheit und gemeinsame Werte trainieren. 

 Mut wächst daher selten im Alleingang. Er entsteht dort, wo Menschen sich gesehen fühlen, wo psychologische Sicherheit herrscht, wo Führung nicht Kontrolle bedeutet, sondern Verbindung. Mut ist kein heroischer Akt. Er ist ein Ergebnis von Vertrauen. Und dieses Vertrauen entsteht, wenn Führungskräfte nicht so tun, als hätten sie alle Antworten, sondern zeigen, dass auch sie im Unklaren stehen dürfen. 

Zukunft lässt sich nicht planen, aber sie lässt sich entwerfen. In Momenten der Unsicherheit hilft kein Blick in die Glaskugel, sondern eine klare Vorstellung davon, wie es aussehen könnte, wenn es gelingt. Statt Angstspiralen entstehen so Zukunftsbilder als emotionale Landkarten. Sie zeigen nicht den exakten Weg, aber sie geben Richtung, weil sie z.B. aus bestimmten Szenarien hervorgegangen sind. Zukunft ist daher kein Ort, zu dem wir reisen, sondern wird zu dem, was wir heute entscheiden und beginnen. Transformation braucht dabei Taktgefühl: Gehen wir zu langsam voran, verlieren wir den Anschluss – in der Technik, am Markt… Rennen wir zu schnell voraus, verlieren wir die Menschen. Das richtige Tempo entsteht, wenn wir kollektiv lernen, statt nur zu reagieren.  

Viele Unternehmen versuchen, Wandel zu "managen". Aber echte Transformation lässt sich nicht verordnen und kontrollieren – sie muss entworfen und gestaltet werden – mit Empathie, mit Sinn, mit Experimentierfreude. Das bedeutet Change by Design. Es sind oft die kleinen, unscheinbaren Schritte, die den Unterschied machen: Ein Team, das Neues ausprobiert. Eine Führungskraft, die zuhört und nachfragt, bevor sie steuert. Eine Organisation, die beginnt, Fragen zuzulassen, statt nur Antworten zu erwarten. 

Fünf Prinzipien helfen dabei: 

- Empathie für Nutzer:innen und Betroffene vor Prozesseffizienz 
- Iteration vor Perfektion 
- Beteiligung statt Top-down 
- Prototypen für neues Denken 
- Sinnorientierte Gestaltung von Zukunft  

Unsicherheit ist kein Fehler im System. Sie ist der Raum, in dem Neues entstehen kann – wenn wir ihn gestalten. Kommunikation schafft Vertrauen, Werte geben Richtung, Zukunftsbilder stiften Sinn. So werden aus Widerstand Bewegung, aus Angst Zuversicht, aus Orientierung Handlung. 

 „Zukunft ist kein Zufall, sondern das Ergebnis unserer Entscheidungen“, schreibt Maja Göpel. Vielleicht ist das die wichtigste Führungsaufgabe unserer Zeit: nicht alles zu wissen, sondern Orientierung zu geben – auch und gerade im Unklaren! 

Kernaussage 

Denn Transformation gelingt nicht dort, wo Antworten perfekt sind, sondern dort, wo Menschen Orientierung, Verbindung und Bedeutung erleben. 

Reflexion / Transfer 

Für Organisationen bedeutet das: Unsicherheit ist nicht das Problem. Das Problem ist, wenn niemand sie anspricht. Wenn Führungskräfte Orientierung geben – nicht durch Allwissen, sondern durch Haltung –, entsteht Vertrauen. Wenn Werte bewusst gelebt werden, entsteht Richtung. Wenn Zukunftsbilder geteilt und synchronisiert werden, entstehen Mut und Energie. 

 „Orientierung im Unklaren“ ist eine Einladung. Eine Einladung, als Führungskraft, Organisation oder Gesellschaft nicht länger auf klare Antworten zu warten, sondern selbst Orientierung zu gestalten. Mit Haltung. Mit Empathie. Mit Mut zur Unsicherheit. Denn genau dort – im Unklaren – entsteht Zukunft. 
 
Weitere Impulse rund um Orientierung im Wandel, Beziehungsintelligenz und Change by Design findest du z.B.
In der Wissensdusche „Strategisches Personalmanagement im Wandel“, oder im Blog „Von der Magie des richtigen Zeitpunkts – Mit Adaptive Cycle Innovationspotenzial nutzen“, indem die Arbeit mit dem Szenario-Trichter erläutert wird.