Anne-Laura Dill Dec 21, 2021 7:45:00 AM Lesezeit 17 Minuten

Digitale Tools und unsere Bedürfnisse

Warum Tools allein nicht die Lösung für dezentrales Arbeiten sind. 

Vorweg sei gesagt: Am Feinschliff dieses Artikels über den Einsatz digitaler Tools in unseren neuen Formen der Zusammenarbeit arbeiteten wir ironischerweise gemeinsam in einem Raum sitzend. Digitales Arbeiten kann eben trotz Learnings in der Pandemie die echte Welt nicht vollständig ersetzen. Aber dazu später mehr 

Digital trifft auf Bedürfnis 

Die vergangenen Monate haben uns eine neue Art gezeigt, wie Arbeit gestaltet werden kann. Ob gelobt oder verteufelt, Home Office und mobiles Arbeiten bringen uns neue Chancen, aber auch neue Herausforderungen. Die einen schätzen daran, dass der morgendliche Weg zur Arbeit entfällt und man den Morgen entspannter angehen kann. Andere fühlen sich von den digitalen Tools abhängig und von der Komplexität überfordert. Führungskräfte vermissen oftmals die Möglichkeit, die geleistete Arbeit im Blick zu behalten und für guten Informationsfluss zu sorgen. Sehr viele klagen über mangelnden Kontakt und sozialen, informellen Austausch. All das liegt daran, dass wir unterschiedlichste Bedürfnisse in den Arbeitsalltag mitbringen, die auch in der vernetzten Arbeitswelt erfüllt werden wollen. 

Wie wir diese neuen Situationen einschätzen und wie wir mit ihnen umgehen, hängt also stark davon ab, wie weit sie unsere menschlichen Bedürfnisse erfüllen oder frustrieren. Die drei Beziehungs-Bedürfnisse sind Bindung, Selbstbestimmung und Selbstachtung. Jedes dieser Bedürfnisse besteht wiederum aus zwei Polen, die für unser generelles Wohlbefinden in einer zur Situation, Lebensphase und der eigenen Persönlichkeit passenden Balance befriedigt werden müssen. So gehört zu Bindung die Nähe zu anderen Menschen, ebenso wie die Distanz (Abgrenzung) zu ihnen. Das Spannungsfeld zwischen Freiheit (ich bestimme selbst was ich tue) und Sicherheit (ich kann mich auf Dinge verlassen) bilden die Selbstbestimmung. Selbstachtung haben wir dann, wenn wir uns einzigartig (andere suchen z.B. unsere Expertise) aber eben auch zugehörig (als Teil einer Gemeinschaft) erleben können. Im Übrigen hat jede*r von uns hat tendenziell einen “Lieblings”-Pol, der mehr als die anderen bewusst befriedigt werden will. Was erklärt, warum wir die neuen digitalen Arbeitsrealitäten so unterschiedlich bewerten.

Auch in der täglichen Zusammenarbeit, in den Interaktionen und im Umgang mit Kollegen muss die Befriedigung all dieser Bedürfnisse ausreichend sichergestellt sein, um den Mitarbeitenden langfristiges Wohlbefinden zu gewährleisten. Im dezentralen Arbeiten sind wir stark von unseren digitalen Tools abhängig und von den Regeln und Umgangsformen, die damit einhergehen. Hier gilt es im Sinne der Befriedigung von Bedürfnissen, die richtigen Weichen zu stellen, um Wohlbefinden zu steigern und um Frustration, sowie Stress zu verringern.

Digitale Tools und ihr Zweck 

Viele neue digitale Tools bereiten den Weg dafür, auch fern vom Büro, Aufgaben zu bewerkstelligen: Sie stellen den grundsätzlichen Informationsaustausch sicher. Heute kann so gut wie jede Aufgabe, ob Kommunikation, Datenablage oder Zusammenarbeit durch ein dafür geeignetes Werkzeug erfüllt werden, und so sammelt sich ein bunter Strauß mal mehr, mal weniger geeigneter Programme an, die wir im Alltag benutzen.     

Was sich allein schon im Umgang mit Dokumenten zeigt. Der Ersatz für Dokumente, die nur an einem Ort verhaftet sind, ist für jedes digitale Büro zentral: Ein Dokument, das auf Papier vorliegt, kann immer nur von Personen eingesehen werden, die sich am selben Ort befinden, wie das Dokument. In der digitalisierten Form kann der Zugriff unabhängig von Ort und Zeit erfolgen - und zwar weltweit. Das digital abgelegte Dokument allein, garantiert aber noch keine effiziente Zusammenarbeit, wenn jede*r eine eigene Version des Dokuments erstellt.  Wenn neue Informationen hinzukommen, werden diese nicht geteilt. Es folgt ein undurchsichtiger Wust an Versionen und Duplikaten, der die erfolgreiche Kommunikation und Zusammenarbeit eher verhindert als fördert.           

Dem trägt der nächste logische Schritt, die Cloud, Rechnung: Sie erlaubt den gemeinsamen Zugriff auf dasselbe Dokument und verwaltet die vorgenommenen Änderungen. So sind wir in der Lage, trotz räumlicher Distanz, dennoch zeitgleich in einem Dokument zu arbeiten. All diese Vorteile sind für uns so selbstverständlich geworden, dass wir heute in vielen Unternehmen gar nicht mehr darüber diskutieren, ob eine Cloud überhaupt eingesetzt werden soll oder nicht - wir machen es einfach.    

Dabei ist die Arbeit an Dokumenten ja nur ein Teil der Zusammenarbeit. Oftmals müssen Themen besprochen, Ideen gesammelt oder Konzepte ausgearbeitet werden. Wie sieht es nun aus, wenn ein Workshop ansteht und der Raum mit Whiteboard und Klebezettel keine Option ist? Auch hier gibt es Nachbildungen, welche die kollaborativ und freie Denkarbeit auf ähnliche Weise unterstützen - digital, mit vielen Personen gleichzeitig und unabhängig davon, wo diese sich befindenUnd selbst asynchrones Arbeiten ist möglich: So können sich beispielsweise Kolleg*innen, die aufgrund von Urlaub, Krankheit oder anderer Verpflichtungen an einer Zusammenarbeit nicht teilnehmen können, die Ergebnisse ansehen und zu einem anderen Zeitpunkt daran weiterarbeiten. Sie können an die Arbeit der anderen anknüpfen, zu ihr beitragen und wissen, wo das Team, das Projekt etc. steht.

Gute Kommunikation sicherzustellen, ist sicherlich eine der größten Hürden. Wenn der kurze Weg meinen Kolleg*innen nicht möglich ist, müssen wir auf digitale Alternativen ausweichen. Hier steht uns eine schier unüberschaubare Palette verschiedenster Formen, vom digitalen Brief über Chatanwendungen, bis hin zum 3D-Meeting-Erlebnis zur Verfügung. Diese Tools lassen sich in zwei Kategorien einteilen: synchrone und asynchrone Kommunikation. Bei synchroner Kommunikation interagiere ich mit meinem Gesprächspartner zur gleichen Zeit, wie wir es vom Telefon oder Video-Call kennen. Asynchrone Kommunikation hingegen erlaubt es, zeitlich versetzt, Konversationen zu führen, wie wir es von E-Mails oder SMS kennen. Moderne Software, welche die komplette digitale Kommunikation eines Teams oder eines Unternehmens stemmen soll, zeichnet sich dadurch aus, dass man zwischen diesen Formen fluide wechseln kann. Man kann Kolleg*innen eine Nachricht hinterlassen, die diese unabhängig vom eigenen Zeitplan bearbeiten können. Genau so kann man mit einem Klick Anrufe tätigen, wenn die Situation es erfordert.          

Digitale Tools – Lust oder Frust?     

Wie zahlen nun die vielen Nutzungsmöglichkeiten, der neuen Tools, auf unsere Bedürfnisse ein? Hier eine kurze Gedankensammlung. Diese kann beliebig erweitert werden:

Selbstachtung 

Einzigartigkeit 
  • Ich bin Experte und habe z.B. Verantwortung für ein Tool
  • Ich stelle mich selbst dar und wähle einen individuellen virtuellen Hintergrund 
Zugehörigkeit 
  • Ich beherrsche das Tool, ich kann reibungslos mitarbeiten 
  • Ich wähle einen virtuellen Hintergrund im Firmen-Look 

Selbstbestimmung 

Freiheit  
  • Ich kann ortsunabhängig oder asynchron arbeiten 
  • Ich kann im Homeoffice eine gemütliche Hose tragen 
  • Ich kann Nachrichten lesen und bearbeiten, wann es mir passt 
Sicherheit 
  • Ich habe Zugriff auf die aktuellste Information (eine gepflegte Team Aufgaben-Liste) 
  • Ich kann mich auf die Funktion unserer Systeme verlassen 
  • Meine Dokumente sind immer aktuell (kein veralteter Stand oder Duplikate) 

Bindung 

Nähe  
  • Wir arbeiten gemeinsam am (digitalen) Whiteboard 
  • Ich kann jederzeit jemanden für ein Gespräch erreichen 
  • Informelles Gespräch am (virtuellen) Kaffeetisch 
Distanz  
  • Ich kann für mich sein und dennoch zum Ergebnis beitragen (Remote Work) 
  • Ich kann im Call die Kamera ausmachen 
  • Ein beendetes Gespräch ist tatsächlich beendet 
  • Ich kann einem eingehenden Anruf aus dem Weg gehen 

Wir sehen, richtig eingesetzt, haben die neuen digitalen Werkzeuge das Potential, unsere Bedürfnisse auf vielfältige Weise zu befriedigen. Genauso gibt es aber auch Fallstricke, die genau das Gegenteil bewirken können.  

Unsere Learnings diesbezüglich möchten wir als Gründer*innen eines Unternehmens , das ausgerechnet im ersten Corona-Jahr “geboren” wurde, hier mit Ihnen teilen: 

1. In kleinen Schritten zum Erfolg
Nicht nur für Digital Immigrants (das Gegenteil von Digital Natives), sondern für viele Menschen aller Altersgruppen ist allein schon der Umgang mit neuen Tools und den damit verbundenen Abläufen die erste, nicht selten große Hürde, die sie nehmen müssen. Denn für sie sind die digitalen Werkzeuge und Abläufe vollständig neu. Es stellt sich bei ihnen daher schnell eine Überforderung ein. Eine solche Überfrachtung mit neuen Werkzeugen und Anweisungen führt zu Frust und Ablehnung. Denn so manch eine*r fühlt sich in der Freiheit eingeschränkt (schließlich bedeuten die neuen digitalen Wege, sich auf diese einlassen und die eigenen zu verlassen). Auch kann man sich in seiner Einzigartigkeit gekränkt fühlen, denn nun sind andere die Experten. Elementar ist deshalb, dass die Werkzeuge schrittweise etabliert werden: zunächst ganz basale Funktionen, die dann mit der Zeit ausgebaut werden können. Es hilft, Ansprechpartner*innen bereitzuhalten, die - jederzeit und schamfrei - angesprochen werden können und weiterhelfen. So kann die Angst vor dem Neuen abgebaut werden. 

2. Die Lesbarkeit der Anderen

Kommunikation besteht zu einem Großteil aus non- und paraverbaler Kommunikation - Gesten, Körperhaltung, Tonlage, Gesichtsausdruck - die sich digital viel schwieriger überträgt. Deshalb stehen auch digitale Profis vor neuen Herausforderungen. Denn auch für sie war es in der bisherigen Vor-Ort-Office-Welt selbstverständlich, mit ihrem “ganzen” Gegenüber zu kommunizieren und dieses wahrzunehmen. Was uns generell hilft, andere einzuschätzen und zudem ein Gefühl von Nähe schafft - beides Grundlagen für Beziehung. In den Video-Call-Tools, die dieses Erleben in der Pandemie ersetzt haben, werden wir auf Brusthöhe abgeschnitten und zum Teil auf Briefmarkengröße reduziert. Dabei gehen sehr viele Informationen verloren, die wir, wenn auch unbewusst, benötigen um eine gelingende Kommunikation ausüben zu können und in Beziehung zu treten. Für viele funktional orientierte Meetings wie Status oder Präsentationen, ist diese Form dennoch tauglich. Sozial orientierte Events dagegen sind nur schwer abzubilden. Für solche gemeinschaftliche Aktivitäten gibt es (noch) keinen adäquaten digitalen Ersatz. Sind physische Treffen dennoch verwehrt, gibt es Video-Chat-Anwendungen, die einen höheren Freiheitsgrad (Räume und Gesprächskreise selbstständig wechseln, um beispielsweise jemanden bei Seite zu nehmen). Dieser kleine Mechanismus wirkt sich dramatisch auf den Ablauf eines Events aus, weil jeder selbst über seine Beteiligung entscheiden kann.  

3. Unverbindlichkeit 

In digitalen Meetings ist häufig die Tendenz zu Unverbindlichkeit zu spüren. Je größer die Gruppe, desto weniger fühlen sich die Teilnehmer*innen von den einzelnen Diskussionen betroffen - oder es scheint zumindest so. Sie lassen sich leicht von anderen Tätigkeiten am Rechner ablenken oder folgen dem Geschehen nur mit einem Ohr. Schwankendes Netz oder störende Hintergrundgeräusche sind ein willkommener “guter Grund”, mal die Kamera oder das Mikro auszumachen, was den Fokus weiter mindert - oder auch wunderbar erleichternd den Drang nach Freiheit befriedigt. Mehr noch als in physischen Treffen kann hier helfen, die Gruppengröße drastisch auf diejenigen zu reduzieren, die von den darin besprochenen Themen tatsächlich betroffen sind, um Konzentration und Beteiligung zu gewährleisten.  

4. Persönliche Treffen gezielt einsetzen 

Dieses letzte Learning endet damit, womit dieser Text begonnen hat: Für die Arbeit an diesem Text haben wir uns für die besondere Qualität eines persönlichen Treffens entschieden, um konzentriert am Text zu arbeiten. Denn nicht alles ist digital abbildbar – bedeutet, dass eine rein digitale Welt nicht zielführend ist. Für manche Zwecke sind persönliche Treffen die bessere Option, gerade wenn es um große Herausforderungen, Diskussionen, Krisen geht oder auch andere Gelegenheiten, in denen der soziale Aspekt im Vordergrund steht. Wenn wir hierfür gezielt Präsenztreffen ansetzen, nutzen wir die gewohnt konstruktive Arbeitsatmosphäre und können schwierige Situationen leichter meisten. Das fördert die Beziehung untereinander und schafft Sicherheit, so dass im Anschluss die digitale Routine gut fortgesetzt werden kann.  

Durch die globale Gesundheitskrise ist diese neue digitale Welt sehr unerwartet über uns hereingebrochen. Sie hat für uns so viele Veränderungen gebracht, dass eine Rückkehr in die alte Realität nicht mehr möglich scheint. Es hat sich uns ein neuer Weg eröffnet. Dieser Weg ist nicht geradlinig, wird mit manchen Hürden aufwarten, doch er kann durchaus gelingen. Mit diesen Learnings im Gepäck, einem Blick für die Bedürfnisse aller Beteiligten und dem Mut die Dinge zu ändern, wenn etwas nicht (mehr) passt, steht einem guten Gelingen nichts im Wege. Und hier sind wir wieder, beim Üübergeordneten Motto: change by design.

Um diesen Wandel aktiv zu gestalten, anstatt sich von ihm überrollen zu lassen, bietet Change das Potential die neuen Möglichkeiten viel eher zu sehen als alles, was nicht geht und Tools am Ende produktiv einzusetzen. Sie hardern noch damit oder fragen sich wie das sinnvoll gelingen kann? 

Diesem Thema widmen wir eine ganze Wissenswelle im neuen Jahr. Wir freuen uns, wenn Sie sich jetzt bereits anmelden

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Dieser Artikel wurde von Anne-Laura Dill, in Zusammenarbeit mit Manuel Immler verfasst.