Paula Bemmann-Wöschler Jul 21, 2021 11:12:48 AM Lesezeit 14 Minuten

Die angstfreie Organisation

In unserer Wissensgesellschaft sind Unternehmen zunehmend auf die Nutzung der Talente ihrer Mitarbeitenden angewiesen. Menschliche Fähigkeiten und schlummernde Potenziale kommen aber nur zur Entfaltung, wenn Angst im Lern- und Arbeitsumfeld keine verhaltensrelevante Rolle spielt. Wenn Fehler erlaubt sind, dadurch Lern- und Verbesserungsmöglichkeiten entstehen und gleichzeitig jede*r mit ihrer/seiner Einzigartigkeit anerkannt und respektiert wird, explodieren Leistung, Innovation sowie fachliche und persönliche Entwicklung. 

Nur, was kann ich als Einzelner tun, um die Arbeitsatmosphäre möglichst angstfrei zu gestalten? Wie sieht ein guter Umgang mit den eigenen und den Ängsten der Kolleg*innen aus? Was fördert denn nun diese sogenannte psychologische Sicherheit? 

Das möchte ich anhand meiner Lieblingsaufgabe im Teamcoaching – der „Palme im Wind“ – näher erläutern:   

Für die „Palme im Wind“ stellen sich die Teammitglieder in einem Kreis auf, Gesicht zueinanderkommunizieren nur noch nonverbal miteinander und sollen denjenigen, die gleich abwechselnd in die Mitte gehen, maximale Sicherheit, aber auch maximalen Spaß durch ein Hin- und Herwiegen im Kreis verschaffen. Eine*r macht den Anfang und geht in die Mitte der Kolleg*innen, verschränkt die Arme vor der Brust, schließt die Augen und lässt sich vertrauensvoll in den Kreis der Kolleg*innen fallen…  

Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich vorstellen, die Palme in der Mitte zu sein? 

Verschlägt es Ihnen den Atem oder verspüren Sie Lust, es auszuprobieren? Fühlen Sie sich sicher unter Ihren Kolleg*innen oder hätten Sie Bedenken? Hätten Sie Angst, sich den anderen im Außenkreis als Palme zuzumuten? Oder eher Angst, dass die Kolleg*innen Sie (versehentlich) fallen lassen? 

Schließen Sie die Augen und lassen Sie sich fallen. Jetzt! Spüren Sie die Hände, die Sie festhalten und in Kontakt bleiben bis die nächsten Hände übernehmen? Spüren Sie die Präsenz und die Konzentration Ihrer Kolleg*innen? Können Sie wahrnehmen, dass es sichere Hände und Schultern gibt und eher zaghafte? Wie muss ein Griff sein, dass Sie ihn als sicher genug, aber nicht zu einengend erleben? Können Sie von Anfang an loslassen – vertrauen? Oder brauchen Sie eine Weile, um sich sicher zu sein, dass Sie immer aufgefangen werden?

Ihre Kolleg*innen im Außenkreis sehen es sofort, ob Sie als Palme in der Mitte tatsächlich vertrauen und die Verantwortung für ein Gelingen an das Team abgeben können. Oder ob Sie weiterhin „die Zügel fest in der Hand halten wollen“ und sich durch ein Mitsteuern ständig einmischen. Ihr Körper bleibt dann verspannt und Sie knicken ab der Hüfte zur Seite ab, statt gerade zu bleiben. Dann wird es für die im Außenkreis schwierig, weil Ihre Fallbewegungen durch Ihr Eingreifen unkontrollierter werden. Sie geraten ins Trudeln oder kippen plötzlich in eine nichtvorhersehbare Richtung weg.

Wenn Sie sich aber einlassen, sprich vertrauen können, dann werden Sie als Palme die Erfahrung machen, wie toll es in der Mitte ist. Sich im Team geborgen, aufgehoben und angenommen zu fühlen. Wer möchte das nicht? Sie werden große Wertschätzung erfahren, denn Sie hören das Schnaufen und Stemmen Ihrer Kolleg*innen im Außenkreis. Sie hören, dass es anstrengend ist, aber Sie hören auch das Kichern und spüren, dass sich Ihre Kolleg*innen gern für Sie ins Zeug legen. Denn es gibt nicht viel Schöneres, als anderen eine Freude zu bereiten! Wenn Sie entspannt sind und es Ihnen gefällt, wie in einem Karussell zu fahren, dann drückt dies nicht nur Ihr Lächeln im Gesicht aus, sondern Ihr ganzer Körper. Das ist wiederum Geschenk und Ansporn für Ihr Team, es zu wagen die Amplitude zu erhöhen, sich noch mehr einzusetzen für Ihren Spaß! Und das ist ansteckend für den gesamten Außenkreis! Trotz erhöhter körperlicher Anstrengung und nonverbaler Absprachen übertragen sich Ihre Freude und Ihr Spaß auf das gesamte Team. Wenn die Stoppuhr das Ende der drei Minuten einläutet, sind alle enttäuscht und überrascht, dass die Zeit schon um ist. 

Und damit haben wir erste Antworten für die oben gestellten 3 Fragen: 

Sowohl als Führungskraft als auch als Teammitglied sind Sie Vorbild für andere – im Guten wie im Schlechten. Wenn Sie zuversichtlich (eher angstfrei) sind, können Sie mit gutem Beispiel voran gehen – sich also als erste*r als Palme anbieten, Veränderungen oder neue Abläufe als erste*r konsequent umsetzen… Sie dürfen und sollten auch aktiv mit Ihrer Angst umgehen, wenn Sie diese haben. Ihr Körper drückt das sowieso, für alle anderen sichtbar, nonverbal aus und es gibt keine schnellere Möglichkeit, sich selbst unglaubwürdig zu machen, als die eigenen Gefühle wie Angst oder Betroffenheit verbal zu leugnen. Es ist ein Ausdruck von Stärke und hilft anderen, bewusst mit ihrer eigenen Angst umgehen zu lernen, wenn Sie eingestehen, dass auch Sie Angst vor den anstehenden Veränderungen und Herausforderungen haben. Sie dürfen sagen, dass Sie Angst haben zu springen. Dann ist es aber wichtig, dass Sie gleichzeitig kommunizieren, was Sie persönlich tun, um Ihre Angst zu überwinden oder mehr Sicherheit zu gewinnen. Und es ist wichtig, dass Sie trotz Angst nicht andere vorschicken, sondern (gern mit „Schwimmhilfen“) selbst ins kalte Wasser springen! Sie zeigen damit anderen in Ihrem Team, dass Angst normal ist und sein darf, schließlich warnt sie uns vor zu hohen Risiken. Sie zeigen aber gleichzeitig, dass man sich nicht von ihr beherrschen lassen darf. Ein konstruktiver Umgang mit Angst heißt, anzunehmen, dass sie da ist, sich zu fragen, auf was sie hinweisen will, ggfs. Sicherheitsmaßnahmen zu treffen und sich dann der Angst zu stellen. 

Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich vorstellen, im Außenkreis zu sein? 

Hätten Sie Lust darauf, ins Schwitzen zu kommen, um der Palme größtmöglichen Spaß zu bereiten? Wie fühlen Sie sich bei der nächsten Palme, die wesentlich schwerer und größer ist als Sie? Wie hoch ist Ihr Zutrauensie halten zu können, wenn diese auf Sie zufällt? 

Zuerst müssen Sie sich im Außenkreis auf die Palme einstellen und – das wissen zwar alle theoretisch, aber vergessen es sofort im Tun – sich immer wieder klar machen, dass keine Palme der anderen gleicht. Jede Palme ist einzigartig, jede Palme braucht ihre eigene Zeit, um zu vertrauen, und jede Palme hat eine eigene Intensitätsgrenze. Also heißt es zuallererst, im Kontakt bleiben (Palme erst loslassen, wenn das Gegenüber im Außenkreis übernommen hat) und beobachten, auf welche Vertrauensmaßnahme die Palme reagiert.

Dann gilt es, für die Palme innen und die Kolleg*innen außen, präsent und ansprechbar zu sein. Wenn Sie als Teammitglied nur halb bei der Sache sind, verpassen Sie eventuell einen Dreh der Palme und greifen zu spät zu oder zu hektisch. Das verunsichert die Palme und ihre Angst steigt. Im schlimmsten Fall müssen Sie mit dem Vertrauensaufbau wieder von vorn beginnen. Außerdem geht es zu Lasten Ihrer Nebenfrauen und -männer. Die müssen nämlich stärker einspringen, wenn Sie sich zu wenig engagieren.

Wenn das Vertrauen aufgebaut ist, ist das Angstniveau bei allen Beteiligten gering. Ich schreibe extra nicht weg, weil etwas Restangst oder etwas Bedenken seine Vorteile hat. Denn alle sollten sich niemals zu sicher sein, alles im Griff zu haben, um nicht nachlässig zu werden und um die Präsenz und die Konzentration aufrecht zu erhalten – im Hier und Jetzt! 

Wenn das Angstniveau niedrig ist, können Sie Höchstleistungen abrufen. Und das macht dann richtig Spaß – der Palme, die Karussell fährt, und dem arbeitenden Außenkreis, der ins Schwitzen kommt und sich spielerisch an die Intensitätsgrenze der Palme herantastet. Neues wagen, ausprobieren, Grenzen ausloten, gemeinsam über Grenzen hinweg gehen… wird dadurch erst möglich!

In der Teamaufgabe wird jetzt das gemeinsam gesteuerte Zusammenspiel (des Außenkreises) richtig wichtigDenn je ausladender die Bewegungen der Palme, desto sicherer ist das Auffangen und Weitergeben zu zweit oder zu dritt. Dafür brauchen Sie einen flexiblen Stand, der es Ihnen jederzeit gewährleistet, Ihre Position dem Geschehen in der Mitte und dem Verhalten Ihrer Kolleg*innen anzupassen. Ihr Wirkungsbereich wird größer, Ihre Kommunikation komplexer 

Und damit haben wir weitere Antworten auf die oben gestellten 3 Fragen: 

 Wenn das Zusammenspiel klappt, steigt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die des gesamten Teams. Lernprozesse und Lerntransfer nehmen an Fahrt auf. Dafür braucht es gar nicht so viel. Es braucht die Anerkennung und Wertschätzung jeder/jedes Einzelnen im Team, denn alle haben ihre Stärken und Schwächen. Es braucht ein Füreinander-Einspringen, wenn Sie sehen, dass eine*r die Last nicht alleine stemmen kann – zu zweit oder dritt wird es gehen! Es braucht die Präsenz aller und die Übernahme von 100% Verantwortung für das gemeinsame Ziel. Es braucht die Bereitschaft und Lust, sich für die gemeinsame Sache auch persönlich zu quälen. Und es braucht den Mut, sich so zu zeigen, wie Sie sind.

In den letzten 20 Jahren habe ich schon alle Facetten angstvoller bis angstfreier Organisationen erlebt – gespiegelt durch die einzelnen Arbeitsteams. Von starren Außenkreisen, deren jegliche Beweglichkeit abhanden gekommen ist und deren Palmen gerade mal den Kopf bewegen durften bis hin zu einem Außenkreis, in dem die Palmen von der Erde abhoben und 3 Meter durch die Luft geworfen wurden, um sicher auf der anderen Seite von drei Leuten wieder aufgefangen zu werden. Beim letzteren war eine Energie im Raum, eine Lust, alles für sein Team und für die Sache zu geben!  
Was könnten wir alles schaffen, wenn es uns gemeinsam gelingt, miteinander angstfreier zu arbeiten – uns gegenseitig zu vertrauen! 

Wenn Sie tiefer ins Thema einsteigen wollen, kann ich Ihnen folgendes Buch empfehlen: 

 Edmondson, Amy C. (2020). Die angstfreie Organisation. Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen. München: Franz Vahlen. 

 Wege, wie Sie konstruktiver mit Ihrer Angst umgehen können, zeigt Ihnen unsere Wissensdusche „Vorsicht ansteckend! Der Umgang mit Angst.“

 

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