In der Veränderung suchen wir nach neuen Konzepten, die uns dabei helfen, mit ihr umzugehen. Den meisten dieser Konzepte, ob „agile Organisationen“ oder „mindful organizing“, wie es sogenannte Hochzuverlässigkeitsorganisationen (HRO)1 praktizieren, ist eines gemein: Sie drehen sich um die Nutzung von FREIRÄUMEN. Freiräume in Hinblick auf Zeit, die benötigt wird, um innezuhalten und Dinge klarer wahrzunehmen, in Hinblick auf die „freie“, nicht-wertende Suche nach Ideen, das „freie“ Experimentieren oder in Hinblick auf Freiräume, die dafür nötig sind, einmal getroffene Entscheidungen zu korrigieren.
Bei aller zwingenden Logik jedoch sind solche Freiräume für viele von uns nicht leicht auszuhalten. Sie fühlen sich schnell wie freier Fall an, machen uns Angst - und führen dazu, dass wir uns trotz Offenheit und Fortschrittlichkeit möglicherweise „das Alte“ und damit die alte Sicherheit zurückwünschen. Das ist nachvollziehbar. Was aber, wenn wir den „freien Fall“ gar nicht als solchen empfinden würden? Was wäre dafür nötig? Dazu möchte ich hier noch einmal ein Bild aus der Gründungszeit unseres Unternehmens mit Ihnen teilen.
Gegründet haben wir inmitten der Coronakrise. Natürlich ging uns künftigen Gründer:innen auch die Frage durch den Kopf, ob das eine gute Idee sei. In meine persönlichen Überlegungen dazu platzte eines Tages ein Gedanke: Genau in dieser Freiheit liegt doch, bei aller Unsicherheit, die Chance, extrem wendig und selbstbestimmt auf diese Krisen zu reagieren! Besser „frei“ schwimmen, als „sicher“ an den Mast eines Schiffes gebunden mit diesem unterzugehen. Da sage ich Ihnen vermutlich nichts Neues, aber ich selbst hatte es noch nie so überwältigend empfunden wie in diesem Moment.
Und dann schoss mir ein weiteres Bild in den Kopf: Fallende Katzen! Um die muss man sich doch auch keine Sorgen machen! Sie landen selbst nach den ärgsten Verrenkungen sicher auf den Pfoten. Oder, nein, EBEN WEGEN dieser „Verrenkungen“, ihrer verblüffenden Beweglichkeit und akrobatischen Körperbeherrschung schaffen sie das. UND wegen des Freiraums um sie herum, den sie im Fallen für die notwendigen Körperdrehungen nutzen können. Angst habe Katzen deshalb im Fallen vermutlich nur wenig.
(Fotoquelle: Deddly; forum.kerbalspaceprogram.com)
Klar, riskantes Springen und Fallen, wie Katzen es tun, ist nicht das, was wir Menschen normalerweise gerne tun.
Im übertragenen Sinn fordern uns Veränderung, gewollte und ungewollte, aber genau das ab: uns im "freien" Raum des Neuen, Ungewohnten so zu "bewegen", dass wir gut "landen".
Und bis wir landen, fallen wir durch den freien Raum der Unsicherheit. Die wiederum halten nur wenige von uns gut aus, denn sie erzeugt unangenehme Gefühle der inneren Unstimmigkeit bis hin zu Angst. Je nachdem, wie stark dieses Gefühl ist, wünschen wir uns nicht selten, diesen freien Bewegungsraum (der Bewegungsmöglichkeiten!) gäbe es gar nicht. Wir suchen nach schneller „Er-Lösung“ und geben uns mit riskanten Scheinsicherheiten, die längerfristig möglicherweise zu einem noch viel „unangenehmeren“ Zustand führen, zufrieden. Hauptsache dieser bedrohliche Freiraum schließt sich wieder und das Gefühl der Unsicherheit lässt nach. Wir nehmen uns damit die große Chance, die eigentlich anstehenden Herausforderungen der Veränderung mit Hilfe unserer geballten Kompetenz, unseren Erfahrungen, unserem Einfallsreichtum, unserem Mut und unserem Durchhaltevermögen selbstbestimmt und ebenso akrobatisch wie die Katze anzugehen und sie im guten Sinn, passend zu unseren echten Bedürfnissen, zu gestalten.
Wir verengen also willentlich den Raum, der uns zur Verfügung stünde. Das ist, um in der Metapher zu bleiben, Fallen mit gefesselten Pfoten!
Fällt eine Katze durch einen engen Spalt, ist sie in der gleichen Bredouille wie alle Nicht-Katzen. In dieser eingeschränkten Bewegungsfreiheit kann sie ihre Eigenschaften und Fähigkeiten - ihre körperliche Flexibilität und ihre Körperbeherrschung nicht voll nutzen, ihren Fall nicht so gut steuern und ihr Aufkommen kaum abfedern.
Ohne Freiraum fällt auch eine Katze wie ein Stein vom Himmel und landet wenig elegant und schmerzlich auf...naja, jedenfalls nicht auf ihren Pfoten.
Wenn wir schon mittendrin sind im „freien Raum des Unbekannten“, lasst uns doch gemeinsam fallen wie Katzen, mit weniger Angst, weil wir gelernt haben, ihn zu nutzen und auszuloten und uns dabei beglückend lebendig fühlen! Lasst uns Bewegungsfreiräume schaffen und unsere Beweglichkeit trainieren - im Denken, im Diskutieren, im Erkunden, Erfinden und Verwerfen. Ansätze wie Agilität und „mindful organizing“ helfen uns dabei.
1. Siehe auch Wissensdusche "Warum agil uns das Leben rettet - Agilität am Beispiel von HRO"