Adventskalender: #11 Blogbeitrag
Woher kommt das Neue? Und: Brauchen wir das überhaupt?
Neu an und für sich ist kein Wert. Aber: Lösungen mit mehr Wert für Anwender*innen und die Mitwelt schon. Neo- Ökologie ist eine Herausforderung, eine Fragestellung, die den Erfindergeist des Ingenieurs anstachelt. Quasi nach dem Motto: „Es kann doch nicht sein, dass wir das nicht gelöst bekommen!“ Das Problem dabei: Zeitdruck in Innovationsprozessen fördert das Springen in naheliegende Lösungen, statt sich mit den Problemen und Herausforderungen zu beschäftigen.
Wir können mehr als „Copy with pride“
Oft liegt der Fokus auf zeiteffizient und günstig. Dann gilt „copy with pride“ und „erfinde das Rad nicht neu“. Aber genau damit schaffen wir keine Disruption und auch keine neuen Lösungen mit Mehrwert. Wir Ingenieure*innen kennen das zu Genüge: Einerseits so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, wenn es um Kosten und Termine geht, andererseits so kreativ wie ein Künstler. Ja, dafür muss man schon ein bisschen schizophren sein. Es braucht mindestens zwei Persönlichkeiten, zwischen denen im Bedarfsfall spielend gewechselt wird. Genau dieses Spiel zwischen scharfem analytischem Verstand und hoher Kreativität ist der eigentliche Treibstoff für Disruptivität.
Die Falle der Lösungsorientierung
Ein Kundenproblem wird erkannt und viel zu schnell auf eine naheliegende Lösung fixiert, anstatt das Problem zuerst genau zu beschreiben und im Detail zu analysieren. Damit ist die Tür für einen disruptiven Ansatz in den meisten Fällen bereits zu, bevor überhaupt richtig mit dem Projekt begonnen wurde. Für eine ganze Reihe von Anwendungsfällen mag dies völlig ausreichend sein, für eine nachhaltige, disruptive Entwicklung jedoch nicht.
Erstmal das Problem richtig verstehen
Das A und O für ein erfolgreiches, disruptives Produkt ist das Anforderungsprofil. Jede hier investierte Zeit ist gewinnbringend angelegt, erhöht die Effizienz im Design Prozess und sichert den Erfolg im Zielmarkt. Ein Anforderungsprofil „lösungsorientiert“ zu erstellen, klingt zwar trendy, ist aber der völlig falsche Ansatz. Wer gleich nach Lösungen sucht, schränkt zu früh den Suchkorridor für gute, neue Lösungen ein und schließt Kreativität aus. Besser wäre es „funktionsorientiert“ zu arbeiten. Die Anforderungen möglichst präzise beschreiben, ohne jedoch dabei eine Lösung vorzugeben. Auf diese Weise kann die Entwicklung die Kernprobleme umfassend verstehen und gleichzeitig ihre gesamte Gestaltungskraft und Erfahrung in das Projekt einzubringen.
Natürlich muss auch weiterhin die Betriebsbedingungen, das Einsatzgebiet und die Abgrenzungen zu anderen Anwendungen beschrieben werden. Hierdurch wir das das Suchfeld für die Entwicklung sinnvoll beschränkt. So zu arbeiten schafft Entlastung auf allen Seiten: Das Produktmanagement, muss nur das Anforderungsprofil beschreiben und nicht wie es gelöst wird. Die Entwicklung kann sich auf die tatsächliche Lösungsfindung fokussieren.
Steht das Anforderungsprofil, lohnt sich die systematische Durchsprache im Team von Entwicklung und Produktmanagement. Dabei lernen beide Seiten viel über das gewünschte Produkt, sowohl in Hinsicht auf kostensensible Themen wie auch über marktspezifische Eigenheiten. Themen wie die Herstellkosten der naheliegenden Wettbewerbsprodukte, welche Brandschutzklasse der verwendete Kunststoff aufweisen muss, welche Zulassungsnormen gelten, welche Kennzeichnung das Gerät tragen muss etc. werden hierdurch sinnvoll im Nachgang ergänzt.
Ein gutes Anforderungsprofil steckt somit Zielkorridore ab. Ein Werkzeug, das hier hervorragende Dienste erweisen kann, ist übrigens der Innovation Canvas: Plakativ und Diskussionsanregend. Genau das Werkzeug, das die Profildiskussion in die richtigen Bahnen lenken kann!
Die Rolle von technischen Konzepten und Verifikatoren
Jetzt beginnt das technische Herz höher zu schlagen: Wir kommen in die Konzeptphase, bei der aus dem Anforderungsprofil die wichtigen Funktionen abgeleitet und im Rahmen verschiedener Lösungsmöglichkeiten in Komponenten, Baugruppen oder Software skizzenhaft umgesetzt werden. Ein disruptives Design legt dabei großen Wert auf eine innovative Kombination von Funktionen und beginnt dann erst mit der Lösungsfindung. Dabei können sich aus einer vergleichenden Bewertung der skizzierten Ansätze neue, völlig unabhängige Lösungen ergeben. Oft nähert man sich so dem gewünschten Ergebnis in einer enger werdenden, spiralförmigen Suchschleife.
Ist das optimale Konzept gefunden, setzt das Detail Engineering es in ein fertigbares Produkt um. Auch hier beschreitet ein disruptives Design neue Wege: Um Komponenten zu testen und Prozesse schnell und sicher in den Griff zu bekommen, werden die einzelnen Teilfunktionen des Gesamtgerätes in vereinfachten Aufbauten umgesetzt. In unserem Sprachgebrauch heißen diese vereinfachten Aufbauten Verifikatoren – Design Thinker würden sie Prototypen nennen. Ein Verifikator bildet eine Plattform, auf der mit bewusst reduzierter Komplexität gezielt kritische Elemente sehr schnell getestet und für den Serieneinsatz qualifiziert werden können. War man hier erfolgreich, werden die einzelnen Verifikatoren in einem Prototyp zusammengeführt, aus dem dann wiederum das endgültige Design abgeleitet wird. Klingt kompliziert und zeitaufwändig, ist aber genau das Gegenteil. Die reduzierte Komplexität ermöglicht es, schnell Abhängigkeiten und Fehlermöglichkeiten zu verstehen und diese dann gezielt anzugehen. Auch an dieser Stelle kann der Innovation Canvas wieder methodisch unterstützend eingesetzt werden.
Im Kopf passiert der Unterschied
Disruption und neue Lösungen mit Mehrwert entstehen nicht aus Zufall. Es ist immer die intensive und unvoreingenommene Beschäftigung mit der Problemstellung. Natürlich geht es dabei nicht immer linear, kontinuierlich vorwärts. Wir werden zurückgeworfen, machen erstaunliche Erkenntnisse, die wir nicht für möglich hielten und stellen immer wieder fest: Das Problem liegt doch wo ganz anders. Aber genau diese neugierige Grundhaltung, die Lust am Verstehen und Lösen von kniffeligen Problemstellungen macht es aus, dass wir erfolgreich zu neuen Ufern aufbrechen. Haben wir im Engineering denn nicht alle ein Stück vom „Christopher-Kolumbus-Gen“ in uns?
Hier finden Sie noch den Link zum Download unseres Innovation Canvas und zum zugehörigen Workbook. Ein Werkzeug, das mit etwas Übung das Team beflügeln wird!