Wie ein Mensch mit Veränderungen, uneindeutigen Situationen und Unsicherheiten umgeht, hängt davon ab, wie er sich selbst und die Welt sieht. Transformationen gelingen nur mit Entscheider*innen, die in ihre ICH-Reife investieren. Sonst bleibt es bei reiner Systemoptimierung.
Was den Menschen einzigartig macht, ist sein Selbst, seine Persönlichkeit, sein Ich. Dieses Ich bildet sich laut dem Schweizer Psychologen Jean Piaget während des Heranwachsens eines Menschen kulturunabhängig in aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen und in Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus. Durch Sinneswahrnehmungen, Beobachtungslernen, Experimentieren, aber auch durch äußere Zuschreibungen entwickeln wir alle als Kinder über Denk- und Handlungsstrukturen eine eigene Vorstellung von unserem Ich und der Welt um uns herum. Diese Denk- und Handlungsmuster werden über gemachte Erfahrungen laufend adaptiert, konkretisiert und differenziert. Passen vorgestellte und erfahrene Welt nicht mehr zusammen, haben wir zwei Möglichkeiten: Die erste Variante ist, wir assimilieren das Geschehene in unser System, d.h. wir integrieren nur die Anteile der gemachten Erfahrung, die auch zu unserem inneren Weltbild passen und negieren oder wehren alles ab, was nicht zu unserer eigenen Denk- und Handlungslogik passt. Der Vorteil ist, wir müssen uns selbst nicht hinterfragen, alles darf bleiben wie es ist. Die Nachteile liegen auf der Hand, wir selbst entwickeln uns an diesem Punkt nicht weiter und hemmen mit unserem Abwehrverhalten gleichzeitig mögliche Entwicklungsprozesse in der Interaktion mit anderen. Dass eine Veränderung noch lange keine Entwicklung bedeutet, demonstriert passend zur Vorweihnachtszeit unser Beziehungscomic.
Gelingt es uns, aber als Variante 2 die völlig unerwartete Erfahrung vollständig wahrzunehmen und als solche stehen zu lassen, dann führt dies dazu, dass wir unser bisheriges Denk- und Handlungsmuster hinterfragen. Wir beginnen, diese Erfahrung zu akkomodieren, d.h. wir verändern unsere bisherige Denk- und Handlungslogik an diesem Punkt und gleichen sie an die neue Erfahrung an. Indem wir das Neue tatsächlich in seiner Gesamtheit zu integrieren versuchen, transformiert unser Ich schließlich seine inneren Strukturen. Es macht einen qualitativen Sprung auf die nächsthöhere Entwicklungsstufe. Wir reifen in unserer Persönlichkeit und damit wandelt sich tatsächlich etwas. Ich überlasse es Ihrer Fantasie, wie der obige Beziehungscomic so gezeichnet werden kann, dass tatsächlich eine Entwicklung in der Paarbeziehung stattfindet.
Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist nach der amerikanischen Psychologin Jane Loevinger das Ich wie ein Prozess zu verstehen, durch den ein Mensch seine inneren und äußeren Erfahrungen erlebt, organisiert und auf sie reagiert. Je höher entwickelt dieser Prozess ist – Loevinger unterscheidet zwischen zehn Stufen der Ich-Entwicklung –, desto flexibler und reifer ist die Persönlichkeit. Unabhängig vom erreichten Level ist die Entwicklung im jungen Erwachsenenalter mit ca. Mitte 20 zumindest vorerst abgeschlossen und das Selbst-/Weltbild gefestigt. Ab diesem Zeitpunkt lernen viele Erwachsenen nur noch im Sinne von Wissensaneignung. Doch auch danach kann der Mensch durch äußeren oder inneren Veränderungsdruck in seiner Persönlichkeit wachsen und sich weiterentwickeln.
Starke, stabile Persönlichkeiten zeichnen sich nicht etwa dadurch aus, dass sie in ihren Vorstellungen und Positionen verharren. Ebenso wenig agieren sie opportunistisch. Sie sind vielmehr dazu in der Lage, im Wechselspiel zwischen Ich und ihrer Umwelt immer besser das Gleichgewicht zu wahren. Sie fühlen sich nicht als Opfer der Umstände, sondern gehen im Bewusstsein ihrer Selbstwirksamkeit konstruktiv mit der Welt und ihren Veränderungen um. Je reifer sie sind, sprich je später sie sich in den Ich-Entwicklungsstufen befinden, desto besser können sie Mehrdeutigkeiten und Widersprüche integrieren – nach außen hin sichtbar als Toleranz. Sie respektieren andere Menschen und Meinungen. Sie handhaben ihre inneren Muster flexibel und sind wenn nötig bereit, alternative Handlungsoptionen zu suchen, um ihre Ziele zu erreichen. Ein starkes Ich wird sowohl sich selbst als auch der Welt gerecht. Als Führungskräfte und Entscheider*innen behandeln sie daher immer weniger Probleme so, wie sie präsentiert werden, oder als eher einzelne Aspekte, die direkt zu lösen sind („Feuer löschen“), sondern Hinterfragen die dahinterliegenden Annahmen, Ziele sowie Werte und redefinieren die Rahmenbedingungen sowie Systemvorstellungen.
Unternehmerischer Erfolg hängt gerade auch im Zeitalter der Digitalisierung von Menschen ab und davon, ob diese trotz ständiger Veränderungen und einer unüberschaubaren Vielfalt an Optionen handlungsfähig bleiben. Es werden Menschen benötigt, die gelernt haben, ihre Denk- und Handlungsmuster immer wieder zu hinterfragen, zu adaptieren, zu transformieren. Menschen, denen bewusst ist, dass „Ich bin“ ein ständiges „Ich werde“ ist.
Schauen Sie gerne noch in dieses Wissensdusche-Short-Video rein. Hier erkläre ich den Unterschied zwischen Entwickeln und Lernen: