Die Gesellschaft ändert sich. Die Menschen ändern sich. Qualifizierte Mitarbeiter*innen werden zum knappen Gut. Wie können Unternehmen diesen Entwicklungen sinnvoll begegnen?
Die Geschichte unserer Individualgesellschaft begann im 15. Jahrhundert mit der Entstehung des Ich-Bewusstseins. Diese Befreiung des Ichs aus dem Kollektiv ging seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert mit der Enttraditionalisierung und der Entzauberung der Welt einher. Alte Gewissheiten und starre Gesellschaftsordnungen wurden zerstört. Statt in die vorgegebenen Fußstapfen der Vorfahren zu treten und ritengebunden immer so weiterzumachen wie bisher, hatte das Individuum nun Wahlmöglichkeiten in seinem Handeln. Der gesellschaftliche Fortschritt war nicht mehr aufzuhalten. Heute stehen dem Menschen zahlreiche, ja zahllose Optionen offen, ob beim Brillenkauf, der Partnerwahl, der Berufswahl, der Gestaltung des eigenen Lebenslaufs. Doch Optionierung heißt nicht nur wählen können, sondern auch wählen müssen. Wir sind gezwungen, zugunsten des einen auf das andere zu verzichten. Und das obwohl in einer dynamischen Welt ohne vorgezeichnete Wege nicht mehr absehbar ist, wohin die Entscheidung für oder gegen eine Option führt, was richtig oder was falsch ist. Das verlangt Autonomie. Die einzelne Person reflektiert bzw. bestimmt selbst, wer sie ist, was sie kann, was sie will, was für sie persönlich Sinn macht. Diese Lebenswirklichkeit macht vor den Toren der Unternehmen nicht Halt. Menschen, die sich dieser Herausforderung täglich stellen, wollen auch am Arbeitsplatz das in ihren Augen Sinnvolle tun und mitbestimmen.
Doch die Realität in den Unternehmen sieht häufig noch anders aus. Ihre Welt ist nach wie vor hierarchisch strukturiert und wird von Zahlen regiert. Die oben bestimmen, was die unten zu tun haben. Sie geben Ziele vor, die erreicht werden müssen, ohne zu begründen, warum. Die Ursachen sind unterschiedlich: Zum einen ist es aufwendig und anstrengend, den Sinn der Einzelmaßnahme im Gesamtzusammenhang zu vermitteln. Zum anderen scheint zumindest manchen Manager*innen aus dem Bewusstsein geraten zu sein, was ihr Unternehmen jenseits monetärer Ziele eigentlich ausmacht. Die Folgen sind gravierend: Macht es für den Mitarbeiter*innen weder Sinn, wie in einem Unternehmen zusammengearbeitet wird, noch für ein bestimmtes Unternehmen zu arbeiten, leiden Motivation und Effizienz. Arbeit wird erledigt und begeistert nicht. Unternehmen, sprich Arbeitgeber*innen, werden austauschbar, und das in einer Zeit, in der die Zahl qualifizierter Mitarbeiter*innen endlich wird. Wollen und können sich gerade gewinnorientierte Unternehmen das auf Dauer leisten?
Der gute alte Geschäftssinn erhält vor diesem Hintergrund neue Bedeutung. Er ist Umsatz-, Gewinn- und Wachstumszielen nicht untergeordnet, sondern deren übergeordneter Garant. Geschäftssinn ist das, was nicht in, sondern hinter erfolgreichen Businessplänen steht. Ist er nicht mehr spürbar oder verloren gegangen, hilft es, wenn sich auch Unternehmen rück- oder neubesinnen auf das, wer sie sind, was sie können und was sie wollen. Der Geschäftssinn ist ihr Grund des Seins und gleichzeitig ein Sinnangebot an die Mitarbeiter*innen, keine Sinnverordnung. Wenn etwas für den einen Sinn macht, muss es das nicht für die andere. Sinn kann nur individuell zugeschrieben werden. Erkennen Mitarbeiter*innen oder potentielle Mitarbeiter*innen im Geschäftssinn jedoch einen Sinn für sich, entwickelt er Anziehungskraft. Im Unternehmen entsteht eine gemeinsame Basis, ein nicht nur verbindlicher, sondern verbindender Corporate Sense, an dem die/der Einzelne ihre/seine Tätigkeit sinnvoll ausrichten wird. Welche Inspiration von sinnhaften Unternehmungen ausgeht, zeigt das Beispiel Buurtzorg aus den Niederlanden. Das 2006 gegründete Unternehmen mit mittlerweile 10.000 Beschäftigten bietet ambulante Krankenpflege. Seinen Sinn sieht es darin, Patient*innen schnellstmöglich wieder ein selbstständiges, unabhängiges Leben zu ermöglichen, Pflege also überflüssig zu machen. Und tatsächlich, Buurtzorg benötigt nur 50 Prozent der vom System vorgesehenen Pflegestunden. Das ist schlecht fürs Geschäft? Ganz im Gegenteil. Buurtzorg weist laut einer Untersuchung von Frederic Laloux fantastische Wachstumszahlen auf und Mitarbeiter*innen anderer Anbieter wechseln mit wehenden Fahnen zu diesem Arbeitgeber (vgl. Laloux 2015, S. 56 und S. 195 f).
Sinn motiviert, gibt Orientierung bei Entscheidungen und wird mit Blick auf neue, partizipative Formen der Zusammenarbeit richtungsweisend. Jetzt heißt es anschnallen, wir betreten das innovative Denkfeld evolutionärer Organisationen: Die Vordenker*innen und Pionier*innen evolutionärer Zusammenarbeit, die wie z. B. Patagonia oder Favi durchaus wettbewerbsorientiert und wirtschaftlich erfolgreich arbeiten (vgl. Laloux 2015, S. 55 ff), sehen in Unternehmen lebendige Organismen, für die drei Prinzipien charakteristisch sind: Selbstführung, Ganzheit und evolutionärer Sinn. Selbstführung heißt, dass es in den Unternehmen keine Hierarchie gibt, stattdessen organisieren sich die Mitarbeiter in kleinen Teameinheiten selbst. Ganzheit steht dafür, dass Mitarbeiter nicht auf ihre fachliche Qualifikation reduziert werden, sondern sich als Menschen mit allem, was dazugehört, ihren Emotionen, ihrer Intuition, ihren Zweifeln etc., in das Unternehmen einbringen. Das setzt enorme Energien frei. Die Mitarbeiter arbeiten nicht mehr nur in der Firma, es wird ihre Firma. Evolutionärer Sinn schließlich meint, der Organisation die Freiheit zu geben, sich so zu entwickeln, dass sie ihrem Sinn gerecht werden kann. Zahlenorientierte Kontrolle wird durch Vertrauen in Menschen ersetzt. Alle Mitarbeiter*innen partizipieren in hohem Maß. Sie entscheiden immer wieder aufs Neue, was sie wie machen, damit sich der Sinn des Unternehmens entfalten kann. So passt sich die Organisation laufend von innen heraus an sich ändernde Rahmenbedingungen an. Sinngerichtete Dynamik, die keine verordneten Veränderungsprozesse mehr braucht. Klingt radikal anders? Ist es auch!
Literaturhinweis: Laloux, Frederic, 2015: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit; München: Vahlen
Grafik: Dannert-Weing