Andreas Schrenk Oct 16, 2018 3:28:00 PM Lesezeit 6 Minuten

KÖNNEN SICH GEWINNORIENTIERTE UNTERNEHMEN SINNLOSIGKEIT LEISTEN?

Die Ge­sell­schaft än­dert sich. Die Men­schen än­dern sich. Qua­li­fi­zier­te Mit­ar­bei­ter*innen wer­den zum knap­pen Gut. Wie kön­nen Un­ter­neh­men die­sen Ent­wick­lun­gen sinn­voll be­geg­nen?

Die Ge­schich­te un­se­rer In­di­vi­dual­ge­sell­schaft be­gann im 15. Jahr­hun­dert mit der Ent­ste­hung des Ich-Be­wusst­seins. Diese Be­frei­ung des Ichs aus dem Kol­lek­tiv ging seit der Auf­klä­rung im 18. Jahr­hun­dert mit der Ent­tra­di­tio­na­li­sie­rung und der Ent­zau­be­rung der Welt ein­her. Alte Ge­wiss­hei­ten und star­re Ge­sell­schafts­ord­nun­gen wur­den zer­stört. Statt in die vor­ge­ge­be­nen Fuß­stap­fen der Vor­fah­ren zu tre­ten und ri­ten­ge­bun­den immer so wei­ter­zu­ma­chen wie bis­her, hatte das In­di­vi­du­um nun Wahl­mög­lich­kei­ten in sei­nem Han­deln. Der ge­sell­schaft­li­che Fort­schritt war nicht mehr auf­zu­hal­ten. Heute ste­hen dem Men­schen zahl­rei­che, ja zahl­lo­se Op­tio­nen offen, ob beim Bril­len­kauf, der Part­ner­wahl, der Be­rufs­wahl, der Ge­stal­tung des ei­ge­nen Le­bens­laufs. Doch Op­tio­nie­rung heißt nicht nur wäh­len kön­nen, son­dern auch wäh­len müs­sen. Wir sind ge­zwun­gen, zu­guns­ten des einen auf das an­de­re zu ver­zich­ten. Und das ob­wohl in einer dy­na­mi­schen Welt ohne vor­ge­zeich­ne­te Wege nicht mehr ab­seh­bar ist, wohin die Ent­schei­dung für oder gegen eine Op­ti­on führt, was rich­tig oder was falsch ist. Das ver­langt Au­to­no­mie. Die ein­zel­ne Person re­flek­tiert bzw. be­stimmt selbst, wer sie ist, was sie kann, was sie will, was für sie per­sön­lich Sinn macht. Diese Le­bens­wirk­lich­keit macht vor den Toren der Un­ter­neh­men nicht Halt. Men­schen, die sich die­ser Her­aus­for­de­rung täg­lich stel­len, wol­len auch am Ar­beits­platz das in ihren Augen Sinn­vol­le tun und mit­be­stim­men.

Doch die Rea­li­tät in den Un­ter­neh­men sieht häufig noch an­ders aus. Ihre Welt ist nach wie vor hier­ar­chisch struk­tu­riert und wird von Zah­len re­giert. Die oben be­stim­men, was die unten zu tun haben. Sie geben Ziele vor, die er­reicht wer­den müs­sen, ohne zu be­grün­den, warum. Die Ur­sa­chen sind un­ter­schied­lich: Zum einen ist es auf­wen­dig und an­stren­gend, den Sinn der Ein­zel­maß­nah­me im Ge­samt­zu­sam­men­hang zu ver­mit­teln. Zum an­de­ren scheint zu­min­dest man­chen Ma­na­ger*innen aus dem Be­wusst­sein ge­ra­ten zu sein, was ihr Un­ter­neh­men jen­seits mo­ne­tä­rer Ziele ei­gent­lich aus­macht. Die Fol­gen sind gra­vie­rend: Macht es für den Mit­ar­bei­ter*innen weder Sinn, wie in einem Un­ter­neh­men zu­sam­men­ge­ar­bei­tet wird, noch für ein be­stimm­tes Un­ter­neh­men zu ar­bei­ten, lei­den Mo­ti­va­ti­on und Ef­fi­zi­enz. Ar­beit wird er­le­digt und be­geis­tert nicht. Un­ter­neh­men, sprich Ar­beit­ge­ber*innen, wer­den aus­tausch­bar, und das in einer Zeit, in der die Zahl qua­li­fi­zier­ter Mit­ar­bei­ter*innen end­lich wird. Wol­len und kön­nen sich ge­ra­de ge­winn­ori­en­tier­te Un­ter­neh­men das auf Dauer leis­ten?

Der gute alte Ge­schäfts­sinn er­hält vor die­sem Hin­ter­grund neue Be­deu­tung. Er ist Um­satz-, Ge­winn- und Wachs­tums­zie­len nicht un­ter­ge­ord­net, son­dern deren über­ge­ord­ne­ter Ga­rant. Ge­schäfts­sinn ist das, was nicht in, son­dern hin­ter er­folg­rei­chen Busi­ness­plä­nen steht. Ist er nicht mehr spür­bar oder ver­lo­ren ge­gan­gen, hilft es, wenn sich auch Un­ter­neh­men rück- oder neu­be­sin­nen auf das, wer sie sind, was sie kön­nen und was sie wol­len. Der Ge­schäfts­sinn ist ihr Grund des Seins und gleich­zei­tig ein Sinn­an­ge­bot an die Mit­ar­bei­ter*innen, keine Sinn­ver­ord­nung. Wenn etwas für den einen Sinn macht, muss es das nicht für die an­de­re. Sinn kann nur in­di­vi­du­ell zu­ge­schrie­ben wer­den. Er­ken­nen Mit­ar­bei­ter*innen oder po­ten­ti­el­le Mit­ar­bei­ter*innen im Ge­schäfts­sinn je­doch einen Sinn für sich, ent­wi­ckelt er An­zie­hungs­kraft. Im Un­ter­neh­men ent­steht eine ge­mein­sa­me Basis, ein nicht nur ver­bind­li­cher, son­dern ver­bin­den­der Cor­po­ra­te Sense, an dem die/der Ein­zel­ne ihre/seine Tä­tig­keit sinn­voll aus­rich­ten wird. Wel­che Inspiration von sinn­haf­ten Un­ter­neh­mun­gen aus­geht, zeigt das Bei­spiel Bu­urt­z­org aus den Nie­der­lan­den. Das 2006 ge­grün­de­te Un­ter­neh­men mit mitt­ler­wei­le 10.000 Be­schäf­tig­ten bie­tet am­bu­lan­te Kran­ken­pfle­ge. Sei­nen Sinn sieht es darin, Pa­ti­en­t*innen schnellst­mög­lich wie­der ein selbst­stän­di­ges, un­ab­hän­gi­ges Leben zu er­mög­li­chen, Pfle­ge also über­flüs­sig zu ma­chen. Und tat­säch­lich, Bu­urt­z­org be­nö­tigt nur 50 Pro­zent der vom Sys­tem vor­ge­se­he­nen Pfle­ge­stun­den. Das ist schlecht fürs Ge­schäft? Ganz im Ge­gen­teil. Bu­urt­z­org weist laut einer Un­ter­su­chung von Fre­de­ric La­loux fan­tas­ti­sche Wachs­tums­zah­len auf und Mit­ar­bei­ter*innen an­de­rer An­bie­ter wech­seln mit we­hen­den Fah­nen zu die­sem Ar­beit­ge­ber (vgl. La­loux 2015, S. 56 und S. 195 f).

Sinn mo­ti­viert, gibt Ori­en­tie­rung bei Ent­schei­dun­gen und wird mit Blick auf neue, par­ti­zi­pa­ti­ve For­men der Zu­sam­men­ar­beit rich­tungs­wei­send. Jetzt heißt es an­schnal­len, wir be­tre­ten das in­no­va­ti­ve Denk­feld evo­lu­tio­nä­rer Or­ga­ni­sa­tio­nen: Die Vor­den­ker*innen und Pio­nie­r*innen evo­lu­tio­nä­rer Zu­sam­men­ar­beit, die wie z. B. Pa­ta­go­nia oder Favi durch­aus wett­be­werbs­ori­en­tiert und wirt­schaft­lich er­folg­reich ar­bei­ten (vgl. La­loux 2015, S. 55 ff), sehen in Un­ter­neh­men le­ben­di­ge Or­ga­nis­men, für die drei Prin­zi­pi­en cha­rak­te­ris­tisch sind: Selbst­füh­rung, Ganz­heit und evo­lu­tio­nä­rer Sinn. Selbst­füh­rung heißt, dass es in den Un­ter­neh­men keine Hier­ar­chie gibt, statt­des­sen or­ga­ni­sie­ren sich die Mit­ar­bei­ter in klei­nen Teamein­hei­ten selbst. Ganz­heit steht dafür, dass Mit­ar­bei­ter nicht auf ihre fach­li­che Qua­li­fi­ka­ti­on re­du­ziert wer­den, son­dern sich als Men­schen mit allem, was da­zu­ge­hört, ihren Emo­tio­nen, ihrer In­tui­ti­on, ihren Zwei­feln etc., in das Un­ter­neh­men ein­brin­gen. Das setzt enor­me En­er­gi­en frei. Die Mit­ar­bei­ter ar­bei­ten nicht mehr nur in der Firma, es wird ihre Firma. Evo­lu­tio­nä­rer Sinn schlie­ß­lich meint, der Or­ga­ni­sa­ti­on die Frei­heit zu geben, sich so zu ent­wi­ckeln, dass sie ihrem Sinn ge­recht wer­den kann. Zah­len­ori­en­tier­te Kon­trol­le wird durch Ver­trau­en in Men­schen er­setzt. Alle Mit­ar­bei­ter*innen par­ti­zi­pie­ren in hohem Maß. Sie ent­schei­den immer wie­der aufs Neue, was sie wie ma­chen, damit sich der Sinn des Un­ter­neh­mens ent­fal­ten kann. So passt sich die Or­ga­ni­sa­ti­on lau­fend von innen her­aus an sich än­dern­de Rah­men­be­din­gun­gen an. Sinn­ge­rich­te­te Dy­na­mik, die keine ver­ord­ne­ten Ver­än­de­rungs­pro­zes­se mehr braucht. Klingt ra­di­kal an­ders? Ist es auch!

 

Li­te­ra­tur­hin­weis: La­loux, Fre­de­ric, 2015: Re­inven­ting Or­ga­niza­t­i­ons. Ein Leit­fa­den zur Ge­stal­tung sinn­stif­ten­der For­men der Zu­sam­men­ar­beit; Mün­chen: Vah­len

Grafik: Dannert-Weing