Die Entscheidung ist gefallen – Britain steigt aus. Und Britain ist heute euphorisch, Brexit-Gegner teils eingeschlossen, erzählt mir meine in London lebende Freundin. Die Brexit-Befürworter fühlen sich befreit. Klarheit! Die Hoffnungen sind groß, dass sich die Zukunftsängste nun beruhigen (der Grund „allen Übels“ ist ja nun nicht mehr nur identifiziert sondern aus der Welt geschafft), das gemeinsame Entscheiden stiftet Identität. Das tut verständlicherweise gut nach all der Zerrissenheit.
Wenn auch vielleicht nur für einen kurzen Moment. Weil die Entscheidung knapp war. Aber auch, weil Angst kein guter Ratgeber ist. Angst blockiert. Sie nährt nicht, sie ermöglicht nicht, sie verengt oder vernebelt die Sicht. Sie führt zu suboptimalen und weniger umsichtigen Entscheidungen. Und sich zu entscheiden – das ist in unserer Zeit auf allen Ebenen zu einer der großen Herausforderungen geworden. Warum?
Das Streben nach Freiheit durchzieht die Geschichte der Menschheit. Viel haben wir daran gesetzt, unsere westlichen Gesellschaften offener und liberaler zu gestalten. Wie gut uns das gelungen ist oder immer noch gelingt, darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Vielmehr beschäftigt mich Folgendes: Mit mehr Offenheit und Liberalität sind unsere Gesellschaften individualistischer und damit pluralistischer geworden. Wir leben in einer komplexen Multioptionskultur, die sich für andere Kulturen als scheinbar paradiesisch ausnimmt und unsere Vorfahren vermutlich in ungläubiges Staunen versetzen würde. Aber: Wird der Entscheidungsspielraum größer, wird die Entscheidungsfindung komplizierter – und der Wunsch nach eindeutigen Lösungen größer.
Interessant finde ich nun die Frage, mit welchem Maß an Freiheit Menschen umgehen können und wie es sich auswirkt, wenn den jeweiligen Bedürfnissen in dieser Hinsicht nicht nachgekommen wird. Denn die Antwort DARAUF hat unmittelbare Bedeutung für Führung.
Freiheit ist einer der beiden Pole unseres grundlegenden Beziehungsbedürfnisses nach Selbstbestimmung. Freiheit vs. Sicherheit, das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns von klein auf bewegen und in dem wir uns nach Möglichkeit um persönliche Balance bemühen.
Wie groß unser Bedürfnis nach klaren Regeln und Anweisungen sowie eindeutigen, wenig komplexen Antworten (Pol Sicherheit) bzw. wie gut wir Vieldeutigkeit, Unklarheiten, Widersprüchlichkeiten und Komplexität (Kennzeichen eine pluralistischen Gesellschaft) und der damit einhergehenden Notwendigkeit, eigenverantwortlich entscheiden und handeln zu müssen, aushalten und handhaben können (Pol Freiheit) hängt von vielen geerbten und erworbenen Faktoren ab wie Neigungen und Fähigkeiten, Lebenserfahrungen, Werten, unserer konkreten Lebenssituation. Vor allem der Umgang mit (Entscheidungs-)Freiheit war und ist dabei immer auch die Messlatte für persönliche Reife und erfordert langes und komplexes Lernen, beginnend mit dem empathischen und kontaktvollen Umgang unserer Eltern mit unseren kindlichen Bedürfnissen.
Sind wir derzeit an dem Punkt angelangt, an dem die Moderne mit ihrer wachsenden Komplexität, ihrem wachsender Pluralismus, ihren wachsenden Entscheidungsspielräumen endgültig auch diejenigen überfordert, die bisher mit Freiheit hantieren konnten? Verstärken sich deshalb derzeit die Unsicherheit und Angst? Steigt deshalb die Nachfrage nach – und mit ihr das Angebot von – vereinfachten und vereinfachenden Antworten, von Lebensratgebern bis politischen Heilsbringern?
Kann es zu viel Freiheit geben?
Psychologisch betrachtet: Ja. Aber die Lösung kann nicht sein, unsere Errungenschaften in Bezug auf Freiheit kurzerhand über den Haufen zu werfen!
Auch und vor allem nicht in Bezug auf Führung. Gerade noch erste Schritte in Richtung „agil“ und nun Rückzug zu autoritärer Führung? Bloß nicht!
Es geht um den feinfühligen Umgang mit den Bedürfnissen der Geführten, also darum, als Führungskraft sicherzustellen,
- dass dem Einzelnen das persönliche Maß an Sicherheit und Freiheit geboten wird, das nicht nur seine persönlichen Bedürfnisse befriedigt und Ängste minimiert, sondern ihn auch dazu ermuntert und ermutigt, seine Fähigkeiten im Umgang mit beidem weiter zu entwickeln
- dass der umsichtige, individuelle und situationsabhängige Umgang mit Freiheit und Sicherheit das Zusammengehörigkeitsgefühl der gesamten Gruppe stärkt,
- dass der Pluralismus der Gruppe genutzt und Gruppendenken minimiert wird und dies zu adäquaten (mal risikofreudig-innovativ, mal abwägend-konservativ), weitsichtigen Entscheidungen bzw. Lösungen führt,
- dass Freiheit weiterhin als Wert an sich geschätzt wird.
DAS wird künftig eine der wichtigen Aufgaben von Führung sein und sie bis aus weiteres unentbehrlich machen.