Dieser Artikel erschien ursprünglich in der VPK-Zeitschrift "Blickpunkt Jugendhilfe" Heft 4, 2021.
Prolog: Beim Besuch einer Jugendhilfeeinrichtung im Vorfeld der Schutzkonzeptionsentwicklung sprach mich ein besorgter Mitarbeiter an: "Herr Schrenk, Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie das ist in unserem Job. Unser beruflicher Alltag ist hochdynamisch und oft sitzen wir bis sehr spät am Abend noch am Schreibtisch und dokumentieren den vergangenen oder planen den nächsten Tag, bereiten die Übergabe vor oder erstellen Berichte oder Stellungnahmen. Und stellen Sie sich vor: Jetzt kommt auch noch das Schutzkonzept!" Die Sorge des zitierten Mitarbeiters kann ich gut verstehen und glaube allerdings, dass sie auf mindestens einem Denkfehler beruht.
Bei der Erstellung des Schutzkonzeptes geht es nicht um die Aneignung, Vermittlung und Hinzufügung einer weiteren neuen Methode zum Einrichtungsportfolio. Wenn die Einführung des Schutzkonzeptes so kommuniziert und verstanden wird, ist es kein Wunder, wenn Mitarbeitende gestresst abwinken, mit dem Tenor: "Wir haben genug zu tun, kommen ohnehin kaum rum, also packt uns bitte nicht noch was obendrauf"
Ebenso scheint es immer noch Einrichtungen zu geben, in denen kein Schutzkonzept vorliegt, weil dort eher die Meinung vorherrscht, "so etwas" nicht zu brauchen. Das wird dann gelegentlich gerne damit begründet, dass man natürlich und zwar schon immer, sehr auf Kinderschutz achte, auch ohne formale Konzeption. Und das stimmt sicher auch, jedenfalls in den allermeisten Fällen. Ein wenig allerdings erinnert das an die Diskussion um die Einführung von Qualitätsmanagement in der Jugendhilfe in den 1980er und -90er Jahren. Damals waberte dieses verärgerte Narrativ durch die Jugendhilfelandschaft: "Was glauben die eigentlich, diese Qualitätsmanager? Dass die qualitativ wertvoll ausgerichtete Arbeit erst mit Qualitätsmanagement beginnt? Wir arbeiten doch schon immer gut!". Das war insofern falsch gedacht, als nicht die Entwicklung von Qualität im Fokus stand, sondern zunächst deren Dokumentation und damit der Nachweis derselben und auf dieser Grundlage dann Differenzierung und fachliche Weiterentwicklung stattfinden konnte und immer noch kann.
Und natürlich hält nicht erst mit der Einführung von Schutzkonzepten eine Pädagogik Einzug in die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die sich an den Bedarfen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert. Unstrittig ist vielmehr, dass dort auf fachlich höchstem Niveau benachteiligte junge Menschen betreut, gefördert, unterstützt und begleitet werden. Die Leitungen der Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden sind in hohem Maße identifiziert mit ihrer Tätigkeit und engagieren sich in beindruckender Intensität und großartiger Integrität mit Kopf, Herz und Hand für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Dafür gebührt ihnen größter Respekt und besondere Anerkennung.
Worauf es beim Schutzkonzept ankommt
Vielleicht erst mal ein paar Varianten, wie es nicht klappt. Das Schutzkonzept in seiner verschriftlichten Form sollte nicht als Produkt einiger weniger oder gar einzelner Personen sauber sortiert und abgeheftet an alle anderen ausgeteilt werden. Das Konzept, das in einer Hauruck-Aktion von der Chefin oder vom Fachdienst in einer knackigen Wochenend-Schicht in den Rechner getippt wurde, mag noch so gut durchdacht und intelligent strukturiert sein. Es wird mit größter Wahrscheinlichkeit nie wirklich umgesetzt werden, sondern bald vergessen, als Papiertiger ein unberührtes Dasein im Regal fristen.
Eine andere Variante ist der Auftrag der Geschäftsführung an eine Arbeitsgruppe, eine Fortbildung zu besuchen, von dort Erkenntnisse mitzubringen und dann in der Arbeitsgruppe das Konzept zu erstellen, allerdings ohne Beteiligung anderer, schon gar nicht des Chefs. Dann wird's auch nichts.
Auch das Schutzkonzept einer anderen Einrichtung mal eben auf die eigene Struktur umzuschreiben, bleibt letztlich so wie alle die genannten Varianten wirkungslos, weil das daraus resultierende Konzept das nicht das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses ist, nicht gemeinsam durchdacht wurde und deshalb auch nicht gemeinsam getragen und umgesetzt werden kann.
Im Kern geht es bei der Erarbeitung eines einrichtungsindividuellen und passgenauen Schutzkonzeptes um die Schärfung der professionellen Sensibilität. Diese Schärfung muss prozesshaft gemeinsam vorgenommen werden und führt dann dazu, dass wahrgenommen werden kann, wann von einer gemeinsam erarbeiteten Haltung, einem Kodex abgewichen wird.
Von zentraler Bedeutung ist das gemeinsame Verständnis z.B. von Nähe und Distanz im Umgang mit Klient*innen. Obwohl die Kolleg*innen in den Teams in der Regel über gleiche oder ähnliche Ausbildungen verfügen und vielleicht auch schon lange zusammenarbeiten, ist nicht sichergestellt, was die einzelnen Teammitglieder hier für richtig halten und zwar weniger bezogen auf die pädagogisch-therapeutischen Bedarfe, da herrscht sicher weitgehende Einigkeit. Ein sozialberufliches Team braucht vielmehr einen gemeinsamen Abgleich des Verständnisses von Risikofaktoren, um auf Abweichungen von einem gemeinsam verabschiedeten Kodex überhaupt reagieren zu können.
Konkrete Beispielfragen aus der Praxis:
- Soll in der Wohngruppe die Gute-Nacht-Geschichte auf dem Bettrand des Kindes sitzend vorgelesen werden auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes bei geöffneter Tür?
- Soll der junge Mensch auf der Autofahrt mit einer/einem Betreuer*in im Bus der Einrichtung auf dem Vordersitz mitfahren oder auf der Rückbank?
Die Risikoanalyse
Diese Fragen führen häufiger zu Kontroversen, als man vielleicht erst meinen könnte. Auf den ersten Blick ist doch klar, was richtig ist, oder? Oder doch nicht? Im Interesse, die Einrichtung zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche zu machen und dabei strukturiert vorzugehen, sollte der Blick auf potentiell auftretendes pädagogisch inadäquates Verhalten gelenkt werden und muss ein Team Antworten finden auf die Frage, wann, wo und wie dieses Verhalten sich in der Organisationsstruktur manifestieren könnte.
Leitfragen: Welche unserer räumlichen Gegebenheiten, Situationen und Zeiten, sind potentiell "geeignet", zum Tatort von Gewalt im weitesten Sinne zu werden? Welche personalen Konstellationen sind in den Blick zu nehmen? Welche alltäglichen und unhinterfragten Interaktionen gibt es innerhalb der Kindergruppe und zwischen Mitarbeitenden und Klienten, und welches Potential bergen sie hinsichtlich grenzverletzenden Verhaltens.
Das ist sehr defizitorientiert, den Teufel an die Wand gemalt und schäumt vor Misstrauen? Na ja, ich nenne es einfach nüchterne Analyse der Risiken, die notwendig ist, um mit geschärftem Blick Risiken zu identifizieren, mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit auszuschließen und dadurch die Einrichtung für Kinder, Jugendliche und die Mitarbeitenden zu einem sicheren Ort zu machen.
Zusätzlich zur Klarheit hinsichtlich der Risikofaktoren der Organisation, hat die Risikoanalyse einen weiteren Nutzen, der von den Teams, die ihr Schutzkonzept bereits fertig haben, ausdrücklich benannt und sehr positiv bewertet wird. Die differenzierte und gemeinsame Auseinandersetzung mit den Fragen, wer aus dem Team welche Situation und welches Verhalten für adäquat und richtig hält und wer eben nicht, führt im Team zu einem weiterentwickelten einheitlichen Verständnis der pädagogischen Haltung und damit zu einer Verbesserung der Zusammenarbeit.
Die Erarbeitung, die Einführung und die Umsetzung eines einrichtungsindividuellen Schutzkonzeptes tangiert sämtliche Dimensionen, Konzepte und Programme einer Organisation. Dazu gehören Strukturen und Abläufe, Prozesse, Kommunikationsformen, kulturelle Bedingungen, Qualität und Formen der Zusammenarbeit in den Teams.
Ausblick
Einrichtungen sollten im Blick behalten, dass die Erarbeitung eines Schutzkonzeptes, einen Prozess der Weiterentwicklung der gesamten Organisation darstellt, der zusätzlich zum Ergebnis, "Schutzkonzept", vielfältige weitere positive Potentiale der Einrichtung hebt und damit die Attraktivität für potentielle zukünftige Mitarbeitende steigert.
Die Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) steht unmittelbar bevor und soll 2021 erfolgen. Bereits der Referentenentwurf weist aus, dass im KJSG die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Konzeptes zum Schutz vor Gewalt, geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung und der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb verstärkt verankert sind.
Es kommt darauf an, das Konzept Schritt für Schritt gemeinsam zu erarbeiten und die notwendigen Schritte bzw. Anforderungen auf mehrere Schultern zu erteilen. Das sollte strukturiert, also mit den richtigen Themen in der richtigen Reihenfolge erfolgen, dann wird der Weg zum Ziel und mündet in ein fachlich anerkanntes, anwendbares, vermittelbares, nutzbringendes und lebendiges Schutzkonzept.
Lesen Sie im nachfolgenden Whitepaper mehr über die komplexen Hintergründe, Grundlagen und Bedingungen eines Schutzkonzeptes, damit es wirklich einrichtungsindividuell entwickelt werden kann und tatsächlich seine Wirkung entfaltet.
Sollten Sie sich beim Lesen selbst gefragt haben, wie weit Ihre eigene Einrichtung auf dem Weg zur Umsetzung eines Schutzkonzeptes ist, können Sie hier einen kurzen Test herunterladen, indem Sie anhand von 20 Fragen einen Eindruck über den Stand Ihrer Einrichtung erhalten können.